Diskussionen um Liberalismus und Liberale verlaufen aktiv auf verschiedenen Niveaus in der russischen Gesellschaft. Diese Diskussionen klären nicht die Probleme. Auf der Ebene des Massenbewusstseins verwandelte sich der Liberalismus de facto in ein unbestimmtes ideologisches Objekt, dessen Wesen durch ein bekanntes beleidigendes Mem ausgedruckt wird, was besondere typische Merkmale dieser Unbestimmtheit verleiht.

Um zu verstehen, wozu Liberale aufrufen, soll man klären, was Liberalismus ist und wer sein End-Begünstigter ist. Zudem ist die liberale kapitalistische Wirtschaft — die Alltagsrealität, in der die russische Gesellschaft unabhängig der politischen Rhetorik und Ergebnissen der Abstimmungen bei TV-Shows lebt.

Dämmerung des Massenbewusstseins

Der Liberalismus befindet sich historisch in einer Reihe der drei größten Ideologien — Konservatismus (Ideologie der traditionellen sozialen Eliten), Liberalismus (Ideologie des privaten Kapitals) und Sozialismus (Ideologie der Angestellten). Das Problem besteht darin, dass es nicht so einfach ist, Liberalismus auf der Ebene des Massenbewusstseins zu bestimmen.

Liberalismus wurde heute in einen ideologischen und politischen Brand verwandelt, der wie jeder Massenbrand seit langem nicht mehr seinem materiellen Produkt und realen Wert entspricht. Gemäß der Logik von Branding hat Liberalismus nur positive äußere Eigenschaften — rhetorisch gesehen ist Liberalismus tatsächlich viel attraktiver als andere Ideologien.

Liberalismus in der Massenwahrnehmung ist eine Ideologie der historischen Befreiung der Persönlichkeit und der Gesellschaft im Ganzen vom Staat. Diese bewusst idealisierte, von der realen politisch-wirtschaftlichen Struktur abgetrennte, jedoch sehr auffallende und attraktive Gestalt befriedigt völlig grundlegende Bedürfnisse des Menschen nach der Freiheit.

Staat — Gesellschaft — Mensch

Liberalismus ist ein sozial-wirtschaftliches System, das auf Grundlage einer einheitlichen Paradigma der Macht-Ontologie eines bestimmten Typs aufgebaut und legitimiert ist. Die drei Ideologien (Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus) sollen vor allem im Rahmen der Umverteilung der Macht und des Eigentums in der Struktur der Gesellschaft betrachtet werden.

Liberalismus verteilt die Macht zugunsten des privaten Kapitals, was historisch mit den Revolutionsprozessen des 18. Jahrhunderts verbunden ist. Liberalismus begründet und gestaltet ideologisch die Machtansprüche, deren Revolutionarität in der Verletzung der Einheit der Triade besteht — Staat-Gesellschaft-Mensch.

Emanzipierte und unabhängige Persönlichkeiten schaffen laut der liberalen Doktrin den Pluralismus, der strukturell in Form der liberalen Demokratie aufgebaut wird. Auffallend ist, dass fast alle Verfasser der Antiutopien des 20. Jh. (besonders in Hymne von Ayn Rand) gehen von der Voraussetzung aus, dass eine kollektivierte Gesellschaft viel einfacher als eine autonome zu steuern ist.

Unter Mensch wird in der liberalen Ideologie ein Eigentümer gemeint, was ein Vorwärtsschritt im Vergleich zum primitiven Nationalismus und Rassismus ist. Doch im Massenbewusstsein wird der Liberalismus zum Synonym für Menschenrechte, unter dem jeder Mensch verstanden wird, was riesengroßen Spielraum für Manipulationen eröffnet.

Der alte Kapitalismus konnte nicht völlig den Staat beseitigen, hat es jedoch geschafft, ihn zu diskreditieren. Bei Ablehnung der staatlichen Gewalt als etwas unnatürliches akzeptiert die moderne Gesellschaft die korporative Gewalt als ein neues Subjekt der Unterordnung.

Vom Liberalismus zum Neoliberalismus

Ideologischer Liberalismus in Gestalt der liberalen Wirtschaft und liberalen Demokratie wird in Begriffen des „Ende der Geschichte" von Francis Fukuyama beschrieben. Das ist die endgültige Doktrin der Hoheit des liberalen Weltsystems, das eigentlich immer seine Universalität erklärte.

Allerdings änderte sich der Liberalismus und verwandelte sich in Neoliberalismus. Hinter einer soliden Fassade des historischen Liberalismus der 18.-19. Jh. ist eine neue Etappe der Umverteilung der Macht und ihrer Abtrennung nicht nur vom Staat, sondern auch von der ganzen Gesellschaft in ihrer traditionellen Deutung.

Neoliberalismus stellt einen neuen Typ der Beziehungen fest, wenn privates Kapital eine supragesellschaftliche und suprastaatliche Position eines neuen Machtsubjets einnimmt. Neoliberalismus entspricht einer neuen Struktur der heutigen Zeit, die in der Soziologie von Alexander Sinowjew in den Begriffen „Übergesellschaft" und „Übermacht" beschrieben wird.

Die Neuheit von Liberalismus ist der Versuch der biologischen Erweiterung der Grenzen der Macht von Übergesellschaft. Die Zukunft wurde bereits zur postmenschlichen Zeit erklärt.

Für wen ist es vorteilhaft?

Die soziale Projezierung und Durcharbeitung des Ersatzes und Beseitigung des Staates (im geopolitischen Aspekt — des nationalen Staates) wird von der Zivilgesellschaft geführt. Sie hält sich für die Macht.

Die Ideen der herrschenden Klasse werden dem Massenbewusstsein über das System des sozialen Nicht-Wissens aufgedrängt, das es dem realen Machtsubjekt ermöglicht, sich als nicht existierend zu bezeichnen. So ist die Ideologie, die es der neoliberalen Übergesellschaft ermöglicht, ihre Macht im globalen Ausmaß zu verbreiten.