In der bulgarischen Hauptstadt Sofia fand vom 10. bis 12. März eine internationale Konferenz zum Thema „Welche Werte uns heutzutage verbinden" statt, die unter der Schirmherrschaft der UNESCO verlief.

An der Konferenz nahmen bekannte Wissenschaftler und Vertreter verschiedener kulturellen, ideologischen, religiösen und philosophischen Schulen Europas, Asiens, Afrikas, des Mittleren Ostens und Nordafrikas teil. Zu den Teilnehmern gehörten die UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa (Bulgarien), Georg von Habsburg (Rotes Kreuz, Ungarn), Anies Baswedan (Indonesien, Bildungs- und Kulturministerium), der Friedensnobelpreisträger von 1996, Dr. Jose Ramos-Horta (Osttimor), Olga Sinowjewa (Sinowjew-Klub, Russland), Professor Anastas Gerdschikow (Bulgarien, Universität Sofia), der Ehrenpräsident der Stiftung Geneva Spiritual Appeal, Dr. William McComish, der Rabbi Geffrey Newman (Großbritannien), der Präsident der Gesellschaft für Außenpolitik, Horst Mahr (Deutschland), der Präsident der Nationalen Kommission für Menschenrechte, Professor Hafid Abbas (Indonesien), der Geschichtsprofessor Dr. Nicolas Offenstadt (Frankreich), Bevollmächtigte Botschafter von 28 Ländern in Bulgarien. Diese und viele andere Teilnehmer der Konferenz hielten im Laufe von drei Tagen mehr als 100 Experten und Beobachter in Spannung.

Die meisten Teilnehmer der Konferenz einigten sich darauf, dass der Vortrag der Kovorsitzenden des Sinowjew-Klubs der Internationalen Nachrichtenagentur Rossiya Segodnya, Olga Sinowjewa, der eine Alternative für die üblichen Vorstellungen des westlichen Publikums von den Werten bot, zum wichtigsten Ereignis des ersten Konferenztags wurde. Wir stellen ihn unseren Lesern vor.

 

Werte, die wir verlieren

(Vortrag von Olga Sinowjewa)

Die unheimliche Schnelligkeit, mit der die grundlegenden Postulate und kreativen Ideen der Menschheit, die sich im Laufe von vielen Jahrhunderten etabliert hatten, an Wert verlieren, wird heutzutage übersehen. Ich hoffe allerdings, dass diese Situation noch nicht hoffnungslos ist.

Denn es ist nicht zu bestreiten, dass Russland und Westeuropa aus historischer Sicht zwei Teile eines geografisch einheitlichen Europas und der einheitlichen christlichen Welt sind.

Nach der Spaltung des Christentums entwickelten sich Ost- und Westeuropa nicht in verschiedene Richtungen, sondern eher parallel, ohne sich zu überschneiden. Jedenfalls waren die Dechristianisierung und Detraditionalisierung gleichermaßen für Russland und für Europa typisch.

Zum Glück aber näherten sich West- und Osteuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach dem Sieg gegen den Faschismus, wieder an — gleichermaßen aus der Sicht der Kultur und der Werte. Doch im 21. Jahrhundert wurden in Europa die Kräfte stärker, die keinen Dialog mit Russland führen, sondern ihm ihren Standpunkt aufzwingen wollen. Noch wichtiger ist aber, dass in Europa inzwischen die amerikanische Verbraucherkultur herrscht, die zu einer Waffe im Hybridkrieg gegen andere eigenständige Kulturen wurde.

Die Werte des Friedens, die für einen auf die Welt gekommenen und wachsenden Menschen nachvollziehbar sind, sind unmittelbar mit der Kultur verbunden. Mit der Welt, die für uns verständlich und natürlich erscheint. Aber wir müssen uns auch an die Errungenschaften und Verluste, an Freude und Unglück erinnern — an alles, was mit allen Wundern der Welt verbunden ist, — und an den Preis denken, der für die Errichtung von Pyramiden in Ägypten bezahlt werden musste, für Taj Mahal, für die Kathedralen in Florenz, für Palmyra, den Élysée-Palast in Paris und den Winterpalast in St. Petersburg. Allein bei dieser Aufzählung entsteht das grandiose Bild von materiellen und geistigen Werten wieder, die die Menschen, die auf unserer Welt lebten, mit ihrer Arbeit, mit ihrem Schweiß und Blut bezahlen mussten.

All diese Menschen wussten, was Liebe, Hass, Neid, Geldgier und Treulosigkeit sind. Sie verstanden aber auch, dass sie eine Lösung leichter finden, wenn sie gemeinsam vorgehen. Es würde ihnen leichter fallen, den Hunger, die Kälte, den Krieg zu überleben. Das ludere Flämmchen des Lebens einer so brüchigen Kreatur, die der Mensch heißt. Das „denkende Schilfrohr", wie ihn Blaise Pascal nannte.

Und sobald diese oder jene Erprobungen vorbei waren, kehrten die Krieger, Flüchtlinge und Kriegsgefangene heim, zu ihrem heimischen Herd. Sie bildeten Familien, weil sie von dem allen verständlichen Gefühl der Liebe und menschlichen Wärme angetrieben wurden. Das waren ganz normale Familien, wo die Väter Beschützer und die Mütter Herdhüterinnen waren. Und die Eltern hießen auch ganz normal: Vater und Mutter, und es gab keine neuen Begriffe wie „Elternteil eins" oder „Elternteil zwei", was inzwischen keine Seltenheit in Deutschland ist.

Wir sind von der Modernisierung und Globalisierung erfasst, die auch die menschlichen Beziehungen betreffen, und verlieren dabei den fundamentalen Faktor: Familie. Ausgerechnet sie ist dafür zuständig, dass die ältere Generation der jüngeren die grundlegenden Wertorientiere wie Kultur, Sitten und Bräuche der jeweiligen Nation, des jeweiligen Landes und der ganzen Welt vermittelt.

Das sind allgemeine und basislegende Werte: Schöpfung, Menschen, Gott, Wahrheit, Macht, Gesetz — und Gegenstände, Erscheinungen, Ideen, die für die Kultur jedes einzelnen Menschen und der ganzen Gesellschaft, für seine bzw. ihre moralische Welt lebenswichtig sind. Dieses eigenartige geistige Kapital der Menschheit, das sie im Laufe von Jahrtausenden kumulierte, wird immer wertvoller. Mit der Natur der geistigen Werte befasst sich bekanntlich die Axiologie, nämlich die Wertlehre, die das Verhältnis zwischen den Werten mit der Realitätswelt des Menschenlebens bestimmt. Dabei geht es vor allem um die moralischen und ästhetischen Werte. Sie gelten zu Recht als höchste Werte, denn sie bestimmten großenteils das Verhalten des Menschen in anderen Wertsystemen.

Für die moralischen Werte besteht die Hauptfrage im Verhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen, in der Natur des Glücks und der Gerechtigkeit, der Liebe und des Hasses, im Lebenssinn.

Das sind die Werte, die das menschliche Dasein prägen und das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Welt bestimmen. Das sind Prinzipien, Ideale und wichtigste Lebensorientiere, die für jeden Menschen und für jeden historischen Kulturtyp spezifisch sind.

Und die wichtigsten Lebensanschauungsbegriffe sind das Leben und der Tod, die in den Gegenüberstellungen „Krieg-Frieden", „Paradies-Hölle" usw. verkörpert sind.

Die Weltanschauungswerte vergleichen darüber hinaus den Menschen mit dem Weltall und der Natur im Allgemeinen, mit dem Raum und der Zeit als Bestimmungsfaktoren des Daseins. Diese Gruppe von Werten bildet diese oder jene Vorstellung vom Weltbild, die für jede einzelne Kultur eigen ist. Die Vorstellung vom Weltall, von der Erde, dem Raum, der Zeit, der Bewegung.

Die Weltanschauungswerte prägen das Verhalten zu dem Menschen, die Vorstellung von seinem Platz in der Welt. In diese Reihe von Werten passen der Humanismus, die Individualität, die Schöpfung, die Freiheit. Sie liegen an der Grenze mit den moralischen Werten.

Was wir heutzutage sehen müssen, sind große und kleine Kriege; ganze Menschenleben werden zerstört, Kulturdenkmäler, Kirchen, Monumente für Kriegshelden werden abgerissen, Grenzen zwischen verschiedenen Staaten werden vernichtet und die Menschenrechte missachtet. Dabei waren ganze Jahrhunderte und Jahrtausende nötig, um manches davon zu errichten, was jetzt über Nacht zerstört wird, nur weil irgendein Wahnsinniger, der über ein immenses Vernichtungspotenzial verfügt, das will.

Ich will jetzt nicht diese Prozesse analysieren. Ich sage nur, dass die traditionelle europäische Kultur, genauso wie die russische Kultur, es heutzutage mit zwei globalen Gefahren zu tun hat, die sie vernichten können.

Auf der einen Seite sehen wir die Vorherrschaft der Verbrauchskultur, die nicht die geistige Entwicklung der Menschen bezweckt, sondern sich nur am Profit orientiert. Statt der großen Literatur werden den Menschen Comics aufgezwungen, statt der klassischen die Pop-Musik, statt des Theaters zahlreiche TV-Shows.

Auf der anderen Seite wissen wir alle sehr gut, wie gefährlich die Terroristen im Nahen Osten für die ganze Welt sind, die dort christliche Denkmäler und die Christen selbst vernichten. In Russland gibt es das Sprichwort: „Wer stark genug ist, muss nicht unbedingt klug sein". Bekanntlich verlangt der Schöpfungsprozess von einem Menschen, einer Nation oder einer Epoche riesige Anstrengungen — physisch und auch mental. Dabei muss man sich erst gar nicht anstrengen, um etwas zu zerstören. Das fällt bekanntlich viel leichter.

Die wichtigsten Kategorien der Moral sind das Gute und das Böse. Die Vorstellungen vom Guten und vom Bösen prägen die Deutung solcher moralischen Werte wie Menschlichkeit, Gutherzigkeit, Gerechtigkeit, Würde usw.

Das ist sozusagen das globale Niveau der Moral, auf dem sich der Mensch als Teil der ganzen Menschheit empfindet. Die „goldene Regel der Moral" hat viele Definitionen, aber im Grunde ist das der kategorische Imperativ Immanuel Kants: „Handle gegenüber anderen so, wie du willst, dass sie dir gegenüber handeln."

Zudem regelt die Moral die Beziehungen zwischen Menschengruppen und —gemeinschaften. Dabei geht es um solche moralischen Werte wie Treue, Ehre, Verantwortung, Pflicht, Patriotismus, Kollektivismus, Arbeitslust und Gewissenhaftigkeit — also um die Fähigkeit, persönliche und gemeinsame Interessen einander anzupassen.

Darüber hinaus gibt es auch ästhetische Werte. Das sind geistige Werte, die mit der Entdeckung, dem Erleben und der Schaffung der Harmonie verbunden sind. Im antiken Griechenland wurde die Harmonie bekanntlich als wichtigste Eigenschaft des Weltalls betrachtet, als Einheit der Vielfalt, als Übereinstimmung, Zusammenklang und Einheit. Die Harmonisierung des Verhaltens eines Menschen gegenüber der Welt, anderen Menschen und sich selbst schenkt ihm das Gefühl des psychologischen Komforts, des Spaßes und der Lust. Die Harmonie wird mit Aufregung und Inspiration erlebt und lässt die Schönheit entstehen. Die ästhetischen Werte sind eng mit der emotionalen Kultur des Menschen verbunden, mit seiner Fähigkeit zu starken Gefühlen. Der ästhetische Bedarf ist der Bedarf nach der Entdeckung und Aufrechterhaltung der Harmonie, nach der Harmonisierung der Beziehungen des Menschen mit der Welt und mit sich selbst.

Noch sind zwei weitere Typen der geistigen Werte erwähnenswert: Ausgerechnet sie ermöglichen die Verbindung und Anpassung der lebensanschaulichen, moralischen und ästhetischen Werte. In erster Linie handelt es sich dabei um religiöse und künstlerische Werte. Leider ist inzwischen allgemein bekannt, dass die islamischen Radikalen nicht nur die Christen vernichten, sondern auch Vertreter aller anderen Glauben, und Europa muss jede Religion und jede Kultur schützen. Deshalb waren die von den Taliban-Kämpfern im Jahr 2001 im afghanischen Bamian gesprengten Budda-Denkmäler genauso wichtig für die Menschheit, wie Palmyra in Syrien.

Russland ist es nicht egal, was mit UNESCO-Denkmälern und anderen Objekten des Weltkulturerbes passiert. Und heutzutage kämpft unser Land gegen die Terroristen in Syrien nicht wegen irgendwelcher geopolitischen Ambitionen unserer Führung.

Der Hauptgrund dafür besteht darin, dass wir unmöglich zulassen können, dass an unseren südlichen Grenzen barbarische Kräfte entstehen, die christliche Gemeinden vernichten, wie auch den wahren Islam und uralte Denkmäler der Weltkultur und der christlichen Welt.

Ich bin überzeugt: Die Rettung und Aufrechterhaltung des Weltkulturerbes müsste heutzutage alle Vertreter Europas und des kulturreichen Teils der Menschheit vereinigen.

In der Kultur sind die Materie und der Geist, wie wir wissen, nicht nur aneinander gebunden, sondern dringen auch ineinander ein: Sie gehören zusammen und lassen sich nicht voneinander reißen. So passiert es eben, wenn die materielle und geistige Kultur im politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und ästhetischen Bereich einander vervollkommnen.

Ich habe gar nicht vor, den verehrten Teilnehmern dieser Konferenz die Unumstößlichkeit der geistigen Stützen zu beweisen, dank derer der Mensch als Krönung der Natur entstanden ist. Der Mensch, der jahrzehntelang nach oben strebte, zu den Kenntnissen, zur Geistigkeit und zur Harmonie mit der Welt.

Das Chaos, in dem sich die Welt heutzutage befindet, lässt sich aber keineswegs als harmonievolles Weltbild bezeichnen. Es entsteht der Eindruck, dass sich die Menschen — egal aus welchen Gründen — mit einem gefährlichen Virus angesteckt haben, das hundertmal schlimmer als Ebola ist. Und jetzt wollen sie alles zerstören und sich am Ende in der Dunkelheit einer vorzeitlichen Höhle wieder finden.

Wollen wir etwa ein solch schreckliches Ende der menschlichen Zivilisation? Sind wir bereit, die großen Werte zu verteidigen, die uns unsere große Geschichte, unsere große Musik und Literatur geschenkt haben? Wollen wir etwa solche Genies der Menschheit wie Sokrates, Tacitus, Michelangelo, Pascal, Goethe, Mozart, Beethoven, Puschkin, Tschaikowski, Balzac, Swift, Tolstoi, Dostojewski und ihre Meisterwerke vergessen?

Wie gesagt, die Vernichtung von historischen und kulturellen Denkmälern ist für Russland keine müßige Frage. Unser Land widersteht dieser Tendenz nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken, zum Beispiel in der Ukraine, wo die Nazis mit Hämmern historische Denkmäler zerschlagen — genauso wie die Terroristen aus dem "Islamischen Staat". Doch Europa, das so stolz auf seinen kulturellen Kode ist, verhängt Sanktionen nicht gegen diese Nazis, sondern gegen Russland, das ihnen widersteht. Ist das etwa kein Beweis für die wertebezogene Sackgasse, in die Europa heutzutage geraten ist?

Der Kampf gegen den Terrorismus und Nazismus, gegen die Barbarei des 21. Jahrhunderts ist der wichtigste Imperativ, der den zivilisierten Teil der Menschheit vereinigen müsste.

Und heute will ich Sie alle fragen: Sind Sie dafür, dass in ganz Europa Denkmäler sowjetischer Soldaten vernichtet werden, die Europa vom Faschismus befreit haben, oder sind Sie dagegen?

Muss denn die schreckliche Vorhersage des herausragenden russischen Denkers Alexander Sinowjew wirklich in Erfüllung gehen, die Menschheit würde wegen ihrer eigenen Dummheit sterben, indem sie alle Werte, die für die Entstehung des Homo sapiens entscheidend waren und die uns alle einst vereinigten, in die Mülltonne wegwirft?

Heutzutage tragen wir die Verantwortung für unsere Zivilisation, wie nie zuvor. Wir müssen die einzige richtige Antwort auf die von Shakespeare einst gestellte Frage finden: „Sein oder nicht sein?"