Die Bolschewiken waren damals mehr als nur loyal gegenüber Polen eingestellt, und jegliche Streitfragen ließen sich durchaus am Verhandlungstisch klären. Die Gespräche scheiterten jedoch wegen des polnischen Führers Jozef Pilsudski, der sehr ambitionierte geopolitische Pläne hatte und sich ungefähr so verhielt, wie der jetzige türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Dieser träumt von der Wiederbelebung des Osmanischen Reiches. Und Pilsudski wollte damals die Rzeczpospolita wieder ins Leben rufen.

Eigene Schuld auf andere abwälzen

Polen entstand auf der politischen Weltkarte nach dem Ersten Weltkrieg. Pilsudski und auch anderen Politikern wurde es von der Leichtigkeit der Entstehung des eigenen Staates schwindelig. Sie bemühten sich sofort um die Erweiterung der Grenzen Polens in alle Richtungen. Deshalb kam es zu territorialen Streitigkeiten nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit der Tschechoslowakei (wegen des Gebiets Teschen), Litauen (wegen des Gebiets Wilna), der Ukrainischen Volksrepublik (wegen Lwow, Ost-Galizien, des Gebiets Cholm und West-Wolhynien). Da muss man sich gar nicht darüber wundern, dass die Weißrussen, Ukrainer, Slowaken, Russen, Juden, Litauer und Letten die Polen für Aggressoren, Plünderer und Mörder hielten.

Obwohl den Krieg gegen Russland Pilsudski entfesselt hat, behaupten manche polnische Historiker wie Zbigniew Karpus von der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń, ausgerechnet die Bolschewiken wären die Aggressoren gewesen, indem sie sich darauf berufen, dass die Rote Armee im August 1920 Warschau erreicht hatte.

Es ist allgemein bekannt, dass die Polen eine sehr eigenartige Logik und ein eigenartiges Gedächtnis haben. Wie der Schriftsteller Stanislaw Kunjajew sehr zutreffend bemerkte, „sie erinnern sich sehr gut an alles, was für sie günstig ist, und sprechen davon mit einer frenetischer Sturheit. Aber alles, was sie gerne vergessen würden, vergessen sie sofort." Polnische Historiker tun so, als würden sie nicht wissen: Erzählungen über den sowjetisch-polnischen Krieg mit der Schlacht bei Warschau zu beginnen, wäre ungefähr so logisch, wie Erzählungen über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion mit der Schlacht bei Kursk oder mit der Operation „Bagramjan" zu beginnen.

Alles begann damit, dass Moskau zwischen November 1918 und März 1919 Warschau gut dutzend Mal erfolglos aufrief, normale zwischenstaatliche Beziehungen zu beginnen. Pilsudski schätzte das als eine Äußerung der Schwäche der Russen ein. Im Frühjahr 1919 eroberten die von der Entente bewaffneten polnischen Truppen Kowel, Brest-Litowsk, Slonim, Pinsk und andere ukrainische, weißrussische und litauische Städte. Die Rote Armee, die im Osten des Landes gegen die Armeen des Admirals Alexander Koltschak und im Süden gegen die Truppen des Generals Anton Denikin kämpfte, musste auch den Kampf gegen die Polen aufnehmen.

Wer den sowjetisch-polnischen Krieg entfesselt hatte, wussten damals alle, darunter auch die Spitzenpolitiker der Entente-Länder, die die Bolschewiken in der Öffentlichkeit verdammten. Doch darüber sprachen sie nur geheim und unter sich.

Am 11. April räumte der US-Vertreter in der Entente-Mission in Polen, Generalmajor F.J. Kernan, in einem Brief an Präsident Woodrow Wilson ein: „Obwohl in Polen in allen Mitteilungen und Gesprächen ständig von der Aggression der Bolschewiken gesprochen wird, konnte ich so etwas nicht sehen. Im Gegenteil, ich bemerkte zufrieden, dass selbst unwesentliche Auseinandersetzungen an der östlichen Grenze Polens eher vom aggressiven Vorgehen der Polen selbst und von ihrer Absicht zeugten, möglichst schnell russisches Territorium zu erobern. Die Leichtigkeit, mit der es ihnen fällt, beweist, dass den Polen keine gut organisierten sowjetischen Streitkräfte widerstehen."

Wer also den Bolschewiken den Überfall auf Polen vorwirft, fälscht die Geschichte.

Worte und Taten der „Verbreiter" der polnischen Kultur

Wie auch heutzutage, glaubten die Polen vor 100 Jahren, zivilisierter und aus kultureller Sicht besser entwickelt als ihre östlichen Nachbarn zu sein. Davon war die ganze polnische Elite fest überzeugt. Der langjährige Gegner Pilsudskis, Roman Dmowski, sprach ständig vom „zivilisatorischen Potenzial des großen Volkes" und betrachtete das polnische ethnische Element auf den litauischen, weißrussischen und ukrainischen Böden als „dominierende und einzige Zivilisationskraft, die zu einer politischen Organisation fähig ist."

Die Wahrheit war jedoch ganz anders. Am 19. April eroberten die polnischen Truppen Wilna (Litauen). Unter den Verteidigern der Stadt war das Mitglied des Militärischen Feldtribunals der Westlichen Schützendivision, Pole Witold Koserowski. Er wurde verletzt und von den „Verbreitern" der polnischen Kultur gefasst: „Als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass einer der Legionäre meine Brieftasche hielt. Er zog das ganze Geld heraus und warf meine Brieftasche unter das Balkenwerk des Pferdestalls. Ich blutete, hatte keine Stiefeln und keinen Mantel an. Meine Unterjacke war zerrissen, und meine Mütze war verschwunden. Ich stöhnte. Einer der Legionäre (…) wollte mich umbringen, doch jemand schrie ihm auf Polnisch: ‚Schieße nicht, das ist der Kommissar!‘

Die Legionäre, die alle etwa 20 Jahre alt waren, hörten auf diesen Ratschlag, besorgten irgendwo ein Stück Stacheldraht, verdrehten mir die Arme und banden mir die Hände mit diesem Stacheldraht, und führten mich in die Stadt, indem sie mich ständig mit ihren Kolben schlugen. Mein Zustand war furchtbar."

Koserowski hatte Glück: Er wurde weder gleich nach der Festnahme erschossen noch in der Gefangenschaft totgeschlagen, noch verhungerte er auf dem Weg ins Lager.

Was sich in polnischen Todeslagern zwischen 1919 und 1922 ereignete, schrieb ich bereits in meinem Artikel „Das Leben und der Tod der Rotarmisten auf den ‚Inseln‘ des polnischen GULAGs". Ich kann nur hinzufügen, dass die Polen nicht nur die Gefangenen, sondern auch die Internierten schikanierten. So schrieb der bereits erwähnte Koserowski über die Regeln im Lager Wadowice:

„In diesem Lager gab es insgesamt mehr als 8000 internierte Personen… Der Tagesablauf war furchtbar. Wir wurden den ganzen Tag verprügelt. Wir wurden für jeden winzigen Verstoß gegen die Lagerordnung verprügelt. Und da uns niemand jemals über die Regeln informierte, wurden wir unter jedem möglichen Vorwand und auch ohne jeden Vorwand zusammengeschlagen.

Die Ernährung war widerlich… Wir bekamen ein Mal am Tag irgendeine Gemüsebrühe und ein Kilogramm Brot für acht Personen, und sonst nichts. Für die vielen Internierten gab es nur eine Küche und ein Klo…

Frauen wurden ständig vergewaltigt, und Invaliden wurden rund um die Uhr zusammengeschlagen. Neben den Baracken, wo die Invaliden lebten, waren ständig Stöhne und Schreie zu hören. In den Frauenbaracken begann jeden Abend Saufgelage. Betrunkene (…) Korporale und Soldaten verließen in der Nacht die Frauenbaracken und schossen auf einmal auf die Invalidenbaracken."

Frauen und Kinder wurden nach draußen geführt und gezwungen, zu singen und zu tanzen…

Angesichts dessen war es kein Wunder, dass jeden Tag bis zu 30 Menschen starben."

Dass die Polen nichts taten, um die Situation in den Lagern zu verbessern, bestätigte auch das Mitglied der zuständigen Kommission des Völkerbundes, Professor Madsen, der Wadowice mehr als ein Jahr später, im November 1920 besuchte. Madsen nannte dieses Lager „eines der schrecklichsten Dinge, die ich jemals im Leben gesehen habe."

Seit damals sind 96 Jahre vergangen. In dieser Zeit gaben sich die Polen keine Mühe, das Gedenken an die in ihren Lagern gestorbenen Rotarmisten und an andere Einwohner des damaligen Russischen Reiches zu verewigen. Jetzt tragen die Polen Monumente für sowjetische Soldaten ab, die ihr Land von den Nazis befreit und ihr Recht auf das Leben verteidigt haben, und verlangen zudem von Russland, ein Denkmal für ihren Präsidenten Lech Kaczynski aufzustellen, der eigentlich immer sein „Bestes" tat, um Russland zu schaden.

In diesem Zusammenhang ist beispielsweise erwähnenswert, dass er am 12. August 2008 an der Spitze der so genannten „Gruppe der Freunde des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili" nach Tiflis reiste und Russland öffentlich Aggression vorwarf, das lediglich die Einwohner Südossetiens gerettet hatte. Wie der Politologe Sergej Tschernjachowski ganz präzise bemerkte, „hat Russland keinen Grund, Kaczynski zu gedenken und seinen Feind zu verehren". Denkmäler für Russlands Feinde aufzustellen — dazu sind nur ihre Mithelfer oder Idioten fähig.

Wie Wrangel für Pilsudski umsonst die Kastanien aus dem Feuer holte

In ihren Werken über den sowjetischen Bürgerkrieg der Jahre 1918 bis 1922 bezeichneten die meisten sowjetischen Historiker Pilsudski als einen Gegner der Sowjetmacht. Allerdings er war auch kein Verbündeter der Weißen Garde, wie auch kein Verbündeter der Roten Armee. Deshalb stimme ich einmal dem Biograf Pilsudskis, Wlodzimierz Suleja, zu, der behauptete, Pilsudski hätte sich „zu den zwei imperialistischen russischen Kräften ähnlich und unabhängig von ihrer Farbe verhalten… Ihr innerer Kampf hatte für ihn keine Bedeutung, solange das Polens Interessen nicht gefährdete."

Kennzeichnend war in diesem Zusammenhang die Passivität der polnischen Truppen im Oktober 1919, als die Konfrontation zwischen den Roten und den Weißen in der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte und sich die Truppen des Generals Nikolai Judenitsch nahe Petrograd befanden, während die Kräfte General Denikins Richtung Tula vorrückten.

Dafür wurden die Polen Anfang 1920 aktiv, als immer offensichtlicher wurde, dass die Roten den Bürgerkrieg gewinnen würden. Am 7. Mai eroberten die Polen ohne jeglichen Widerstand das von der Roten Armee verlassene Kiew. Dort fand eine gemeinsame Parade der polnischen Truppen und der Kräfte Simon Petljuras statt.

Die Okkupanten blieben in Kiew mehr als einen Monat lang. Als sie die Stadt verließen, setzten die polnischen „Zivilisationsförderer" die Kiewer Kanalisation außer Betrieb, wie auch ein Kraftwerk und mehrere Bahnstationen.

Auch die Stadt Borissow hatte kein Glück mit den Polen. Ende Mai wurde sie im Laufe von zwei Tagen von ihnen beschossen. Borissow wurde fast vollständig zerstört, wobei nahezu 500 friedliche Einwohner getötet wurden und etwa 10 000 Menschen obdachlos wurden. Über dieses Verbrechen informierte die sowjetische Regierung die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der USA in einer Note vom 2. Juni 1920. Der „zivilisierte Westen" reagierte darauf aber ungefähr so, wie auf Moskaus Berichte über die Artillerieangriffe der Kiewer „Junta" gegen viele Städte in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Jahr 2014.

Die Rotarmisten drängten die Polen bis nach Warschau zurück. Um seine flüchtenden Truppen zu stoppen, setzte Pilsudski Blockade-Abteilungen ein, was heute aber weder die Polen selbst noch ihre Glaubensgenossen in Russland und der Ukraine erwähnen.

„Als die Bolschewiken zu Warschau vorrückten, gab es dort nichts — nur die Polizei. Selbst die Post und das Telegraf wurden evakuiert", bezeugte der polnische Kommunist Wladislaw Ulianowski im September 1920 auf der neunten Konferenz der Russischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken. Der italienische Botschafter in Polen, Francesco Tommasini, erinnerte sich, dass sich die Roten der Weichsel so angenähert haben, „dass sie nur sieben Kilometer vom Fluss entfernt aufgehalten wurden, der die Stadt vom Warschauer Vorort Praga trennte. Das löste großes Aufsehen aus, so dass das diplomatische Korps die Hauptstadt eilig verlassen musste, die jetzt unmittelbar in der Nähe der Kriegshandlungen lag: Es waren Kanonenschüsse deutlich zu hören; auf allen Straßen wimmelte es von Soldaten; es fuhren mit Verletzten überfüllte Kutschen hin und her, die vom Schlachtfeld direkt in Krankenhäuser gebracht wurden."

Und in dieser Situation eilten die Soldaten der Weißen Garde Pilsudski zur Hilfe. Am 25. Juli begannen die Truppen Pjotr Wrangels eine Offensive, um die sowjetischen Kräfte bei Orechow zu zerschlagen und Alexandrowsk (jetzt ukrainisches Saporoschje) und Jekaterinoslaw (jetzt ukrainisches Dnepropetrowsk) zu erobern. Am 2. August wurde Alexandrowsk von den Weißen auch erobert.

Dieser Schlag in den Rücken wurde zu einer unangenehmen Überraschung für die Westliche und Südwestliche Armee der Roten Armee, die Warschau und Lwow stürmten. Am 19. August beschloss das Politbüro der Kommunistischen Bolschewiken-Partei, „die Wrangel-Front als Priorität anzuerkennen". Genau dann geschah das berüchtigte „Wunder an der Weichsel": Die Polen konnten Warschau verteidigen und begannen eine Offensive.

Bald stellte sich heraus, dass weder die Bolschewiken noch die Polen genug Kräfte hatten, um den Krieg weiter zu führen. Am 12. Oktober unterzeichneten die Seiten einen Vertrag über Waffenstillstand und Friedensvorbedingungen.

Im Laufe nur eines Monats zerschlug die Rote Armee die Truppen von Wrangel, die dann die Krim verlassen mussten. Auf Hilfe von Pilsudski wartete der Baron vergebens, woraus wir etwas schließen können, was auch für uns wichtig ist: Man sollte unter keinen Umständen den Polen gehorchen geschweige denn für sie „Kastanien aus dem Feuer" holen.