Vom „Europäismus" zum „Neo-Osmanismus"

Am Beispiel der Türkei ist sehr gut zu sehen, dass neoliberale Behauptungen von der außerideologischen Natur der modernen Staatsmacht, gelinde ausgedrückt, gelogen sind. Die wichtigste Ideologie der Türkei am Ende des 20. Jahrhunderts war mit dem Ziel EU-Beitritt verbunden, wobei dieses Landes als vollberechtigte europäische Großmacht und seine Einwohner selbst als richtige Europäer anerkannt werden müssten.

Auf diesem „europäischen Weg" musste die Türkei in den vergangenen Jahrzehnten vieles erleben, aber jetzt kann man behaupten, dass diese Ideologie in der Türkei selbst gescheitert ist. Die Zahl der Anhänger des EU-Beitritts ist 2015 von 75 auf 20 Prozent geschrumpft.

Neben der Enttäuschung vom „europäischen Projekt" lässt sich im türkischen Establishment in den 2000er-Jahren eine Art „Neoosmanismus" beobachten, der im Grunde als Ersatz für den „Europäismus" vorangebracht wird. Vor allem bemühen sich Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu darum, und zwar erfolgreich. Dank dieser Idee sind sie an die Macht gekommen und bleiben immer noch an der Macht.

Die Idee zur Wiederbelebung des Osmanischen Reiches und zur osmanischen Führung in der ganzen islamischen Welt und die Beteiligung der Türkei an der Aufteilung der während der Kriege zerstörten Nachbarländer haben nicht nur Erdogan für seine Wähler attraktiv gemacht, sondern auch der wichtigste Inhalt seiner Innen- und Außenpolitik geworden.

Übrigens zeigte man sich weder in den USA noch im Westen generell von der „neoosmanischen" Selbstbestimmung des türkischen Establishments begeistert. Erdogan ist auf Versuche zur Umsetzung einer „bunten Revolution" und auf einen ziemlich harten Druck gestoßen.

Dann bot er dem Westen quasi ein Tauschgeschäft an: Er würde den „arabischen Frühling" und den Machtsturz des libyschen Herrschers Muammar al-Gaddafi unterstützen, dafür aber die Führung im Anti-Assad-Projekt in Syrien übernehmen. Der Westen müsste dann allerdings auf seine Innenpolitik und seine „neoosmanische" Ideologie ein Auge zudrücken.

Dieser Deal wurde auch abgewickelt. Es gab keine Versuche zu „bunten Revolutionen" mehr, aber niemand kritisierte Erdogan für die Zerschlagung der Spitze der türkischen Streitkräfte und für die Verurteilung mehrerer Generäle sowie zahlreicher Menschenrechtler und Oppositionsjournalisten. Der „zivilisierte" Westen hatte auf einmal kein Interesse mehr für liberale und demokratische Werte in der Türkei. Auch den faktischen Völkermord an den Kurden im Osten dieses Landes hat der Westen „übersehen".

Da blieb Erdogan nicht mehr viel übrig: Assad zu stürzen und an der Aufteilung des „syrischen Erbes" neben anderen interessierten Seiten wie Saudi-Arabien und Katar teilzunehmen.

Antirussisches Spiel

Aber der russische Syrien-Einsatz hat Erdogans Hoffnung zum Sturz Präsident Assads zum Scheitern gebracht, weil der so genannte "Islamische Staat" und andere terroristische Gruppierungen dadurch wesentlich geschwächt wurden.

Wenn die syrische Armee und das kurdische Volksheer in der nächsten Zeit die syrisch-türkische Grenze sperren können, dann müsste der IS ohne die türkische Unterstützung immer weiter in den Osten rücken, bis er gezwungen wird, dorthin zurückzukehren, woher er gekommen ist: in den Irak und andere Golfländer und sogar in die Türkei.

Als Erdogan im Herbst 2015 einen russischen Bomber abschießen ließ, begann er absichtlich ein ganz großes Spiel. Er bot sich den Amerikanern als Kämpfer nicht nur gegen Assad, sondern auch gegen Russland an. Er setzte auf schwierige und komplizierte Verhandlungen mit den USA und Deutschland, wobei seine Belohnung für die Zuspitzung der Situation und möglicherweise sogar für direkte Auseinandersetzungen mit den Russen das Gesprächsthema war.

Deutschland bot Erdogan Hilfe bei der Lösung des Flüchtlingsproblems an. Merkel müsste dafür erstens tief in die Geldbörse greifen (Ankara verlangte drei Milliarden Euro) und zweitens die Türkei ideologisch gegen Russland unterstützen. Merkel zeigte sich dazu bereit, indem sie die „Grausamkeit" der russischen Bombenangriffe in Syrien verurteilte.

Zudem sollten die USA die Türkei bei deren antirussischer Eskalation unterstützen und Erdogan es gestatten, die Kurden im Norden Syriens zu vernichten. Das hatten die türkischen Offiziellen noch in der vorigen Woche offen und frech verlangt.

Erdogan wollte eine Bodenoffensive gegen die syrischen Kurden entfalten. Für ihn bestand die Frage nur darin, ob er das nach einer öffentlichen Vereinbarung mit den USA oder bei deren stiller Zustimmung tut. Er dachte, die Amerikaner würden die Kurden gegen die antirussische Position Ankaras eintauschen, und das würde den Weg zur Eskalation der Lage, zum Scheitern des politischen Prozesses in Syrien und zu neuen Versuchen zur Vernichtung Assads frei machen — schon unter unmittelbarer Beteiligung der Türkei. Er rechnete damit, dass Washington das alles akzeptieren würde.

Für die Amerikaner wäre aber die Anerkennung der syrischen Kurden als Terroristen strategisch sehr ungünstig. Sie wollen die syrischen Kurden auf ihre Seite ziehen.

Denn diese sind eine große Kraft, egal wie sich die Situation in der Region entwickeln sollte, und für die Amerikaner war es sehr wichtig, die Kurden als ihre Verbündeten, aber keineswegs als ihre Feinde zu haben.

Doch taktisch rechnet Erdogan damit, dass er für Washington wichtiger als die Kurden wird, indem er immer wieder die Russen in Syrien verärgert.

Darin besteht die wahre politische Wahl der USA. Sie haben es grundsätzlich sehr ungern, eine konkrete Wahl zu treffen, und wenn Erdogan ständig versucht, sie unter Druck zu setzen, dann gefällt es ihnen erst gar nicht. Deshalb wird Washington wohl versuchen, auch weiterhin an beiden Spielen — dem türkischen und dem kurdischen — teilzunehmen.

Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass die Amerikaner Erdogan doch aufgeben und auf die Kurden setzen werden (sprich auf eine Destabilisierung der Situation in der Türkei und auf den faktischen Ausbruch eines Bürgerkriegs dort). So etwas wäre auch durchaus möglich, denn eine zerfallende und hochkochende Türkei würde in das allgemeine Szenario der endgültigen „Entzivilisierung" des Großen Nahen Ostens, an dem man in Washington arbeitet, sehr gut passen.

US-Außenminister John Kerry hat bereits zu verstehen gegeben, dass der nächste Schritt im Falle des Scheiterns des politischen Prozesses in Syrien dessen Aufteilung werden könnte. Und wenn Syrien aufgeteilt wird, warum sollte das nicht auch mit der Türkei passieren?

Pläne innerhalb von Plänen

Das zwischen Russland und den USA getroffene Abkommen über die Feuereinstellung war meines Erachtens nicht nur ein diplomatischer Sieg Moskaus, sondern auch ein starker Schlag gegen Erdogan. Er begreift wohl allmählich, dass es für ihn schief gegangen ist, und hat bereits den Rückgang eingelegt. Denn sein Außenminister erklärte bereits, die Türkei hätte nicht die Absicht zu einer Invasion nach Syrien, obwohl Ankara erst einen Tag zuvor gerade das Gegenteil behauptet hatte.

Kennzeichnend ist, dass im Rahmen der Arbeit am russisch-amerikanischen Abkommen intensive Beratungen mit Saudi-Arabien und Katar stattgefunden haben, wobei die Türkei allerdings kaum erwähnt wurde. Damit ist Erdogan der einzige geblieben, der Russland zu seinem Feind erklärte und mit ihm keine Kontakte mehr haben wollte. (Höchstens dürfte er mit Unterstützung seines ukrainischen Amtskollegen Pjotr Poroschenko rechnen.) Und das gefällt Erdogan offenbar nicht.

Der Westen verfügt über historische Erfahrungen, wie er die Türkei als ein antirussisches Instrument einsetzen kann. Vor allem ist in diesem Kontext der Krim-Krieg erwähnenswert, als Frankreich 1853 den russisch-türkischen Konflikt auslöste und Großbritannien das ganze Vorgehen bis auf den Eintritt in den Krieg gegen Russland unterstützte. Damals war die Türkei nach der Seeschlacht bei Sinope am Rande der Kapitulation. Das war übrigens das einzige Mal in der Geschichte, dass Großbritannien einen unmittelbaren Konflikt mit Russland hatte. Ansonsten bevorzugte London Stellvertreterkriege gegen Moskau.

Eine ähnliche Geschichte spielte sich auch im Russisch-Türkischen Krieg der Jahre 1877 und 1878 ab. Die beiden Kriege hat die Türkei verloren, wohlgemerkt.

Das wird auch diesmal passieren, und zwar ohne einen Krieg, sondern nur wegen des von Erdogan begangenen strategischen Fehlers bei der politischen Selbstbestimmung. Es wird noch die Zeit kommen, wenn der Preis für den „verräterischen Dolchschlag" in Russlands Rücken und die darauf gefolgten Ereignisse erörtert wird. Allerdings angesichts der Behauptung Erdogans, Russland hätte „wegen zwei Piloten einen solchen Freund wie die Türkei verloren", wird es ihm schwer fallen, zu begreifen, was er alles angestellt hat.

Damit haben die russischen Luft- und Weltraumtruppen bislang den Sturz des syrischen Präsidenten Assad und die russische Diplomatie Erdogans Invasion in dieses Land unmöglich gemacht.

Die Türken zeigten sich über die russisch-amerikanische Einigung bezüglich Syriens sehr empört. Ein Minister in Ankara sagte sogar, Moskau und Washingtons hätten sich „heimlich über mehrere mit der Region verbundene Fragen verabredet." Noch finden die Türken, dass das Feuereinstellungsabkommen nicht für die syrischen Kurden gelten sollte.

In dieser äußerst schwierigen Situation müssen wir unser aus Kraft und Diplomatie kombiniertes Spiel konsequent fortsetzen, das bislang sehr erfolgreich ist.

Nach der Einigung über die Feuereinstellung wurde Erdogan quasi ausgeklammert — jedenfalls für eine Weile. Hoffentlich gelingt es Moskau, den syrisch-syrischen politischen Prozess in die Wege zu leiten, an dem sich auch die Kurden beteiligen würden. Dadurch würde sich die Situation um die syrische Staatlichkeit stabilisieren.

Und die Türkei riskiert es jetzt, wieder einen hohen Preis zu zahlen: diesmal für die „neoosmanische" Politik ihres Präsidenten Erdogan. Der Preis wäre, dass sie in den in Übereinstimmung mit Washingtons Plänen immer größeren Destabilisierungsraum gerät.