Die Situation in Russland und der Welt spannt sich immer weiter an. Deshalb fragen sich alle ungleichgültigeт Menschen immer öfter: Kommt es zu einem globalen Krieg? Bricht die russische Wirtschaft zusammen? Was kann man überhaupt tun? Das russische Establishment ist leider nicht in der Lage, diese Fragen zu beantworten, und glaubt offenbar an ein Wunder. Ihm zufolge sollten das wohl auch alle anderen tun.

Auch der russische Wirtschaftsminister forderte uns vor einigen Tagen auf, daran zu glauben, dass die russische Wirtschaft ihren Tiefpunkt seit dem Sommer 2015 hinter sich hätte. Damals hatte er nämlich behauptet, sie hätte ihren „fragilen Boden" erreicht.

Aber das Volk kann nur an eine solche Idee glauben — egal ob im Vorfeld eines großen Kriegs oder des anstehenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs, — die nach ihrem Umfang mit den erwähnten Herausforderungen vergleichbar ist, aber nicht an die Worte eines einzelnen Beamten.

Und wenn es keine solche Idee gibt, suchen die Menschen nach solchen weltanschauungsbildenden Stützen selbst und finden sie in ganz verschiedenen Phantomideen und Märchen.

Privatisierung oder Nationalisierung?

Vor ein paar Monaten hat der bekannte russische Schriftsteller Wladimir Sorokin in einem Interview für die deutsche „Tageszeitung" gesagt, dass „dieses Land keine normale Zukunft hat". „Russland fällt auseinander", zeigte sich der Schriftsteller überzeugt.

Ich glaube nicht, dass Herr Sorokin das alles böse meinte oder dass er ein Russlandhasser ist. Aber so ist es ihm nun einmal bequem, zu glauben. Dieser populäre Autor hat neulich eine Wohnung im Berliner Bezirk Charlottenburg gekauft und passt sich offenbar den für ihn neuen europäischen Standards an. Unter anderem geht es dabei auch um die Anpassung seiner Gedanken.

Ohne sich die Mühe zu geben, logisch zu denken und sich auf historische Fakten zu stützen, erläuterte der Autor des Buchs „Der Tag des Opritschniks" bei der Präsentation dieses Buchs in Brüssel den europäischen Lesern, die kaum eine Vorstellung von der russischen Geschichte haben, seine originelle Version der Herkunft der russischen Großmacht: „Der russische Staat begann mit den Drangsalierern (deutsches Wort für Opritschnik) des Iwan dem Schrecklichen". Als hätte es den russischen Staat vor Iwan dem Schrecklichen erst gar nicht gegeben — als hätten die Russen noch eine Urgesellschaft gehabt.

Indem Herr Sorokin die russische Geschichte etwas freizügig deutet, will er nicht nur die Verleger und Käufer seiner Bücher erstaunen, sondern auch sich selbst überzeugen, dass „in Russland der Mensch dem Staat dient, während in Deutschland der Staat den Menschen dient".

Aber lassen wir den erfolgreichen Schriftsteller und seinen „Glauben" daran, dass „in Deutschland der Staat den Menschen dient", einmal in Ruhe und versuchen, zu erklären, wieso manche durchaus aufgeklärte Russen an solche primitiven Schemata glauben. An solche wie beispielsweise: „Russland fällt auseinander" oder „Russland wird bald alle seine Feinde bezwingen". Zumal unser Land tatsächlich immer stärker auseinanderfällt, allerdings nicht nach dem territorialen, sondern nach dem Weltanschauungsprinzip: nämlich in zwei riesige Kategorien der Menschen, die an entgegengesetzte Dinge glauben.

Zur Polarisierung der Stimmungen in der russischen Gesellschaft tragen auch Soziologen bei, die bei Umfragen gleichermaßen inakzeptable Varianten von Antworten anbieten — zum Beispiel: „Sind Sie für privates oder für staatliches Eigentum?" Danach bleibt den Medien nicht viel übrig als die Ergebnisse zu veröffentlichen, dass 52 Prozent der Bevölkerung für eine „Wirtschaft mit staatlicher Planung" auftreten — mit allen möglichen daraus folgenden „anti-liberalen" Werten wie Stärkung der Rolle des Staates und der konservativen Ideologie.

Ähnlich hatten manche Typen, die an Losungen und Mottos glaubten, die Russen mit der Frage an die Wand gedrückt: „Bis du für die Roten oder für die Weißen?" Obwohl die wahre Kenntnis bekanntlich nicht nur aus rot-weiß und sogar nicht nur aus den Regenbogenfarben besteht.

Bei der Kenntnis handelt es sich um die endlose Vielfalt von Schattierungen aller möglichen (und auch unmöglichen) „Farben", die man analysieren muss, um erst dann auf die Frage „Was tun?" zu antworten.

Weniger Kenntnisse — mehr Glauben an primitive Schemata

Zwischen dem Menschen, der etwas weiß, auf der einen Seite, und dem Menschen, der an etwas glaubt (aber bitte nicht mit dem Gläubigen verwechseln!), auf der anderen Seite, gibt es einen riesigen Unterschied. Aber bevor ich diesen Unterschied erkläre, bemerke ich einmal, dass der wissende Mensch immer an etwas glaubt (denn er weiß immerhin, woran er glauben kann und sollte — in der wissenschaftlichen Welt wird dieser Glaube „Hypothese" genannt). Der an etwas blind glaubende Mensch kennt sich aber üblicherweise nicht in dem Bereich aus, über den er urteilt.

(Wozu braucht man denn, die Geschichte Russlands zu kennen, wenn es viel einfacher ist, zu glauben, dass diese Geschichte erst mit Iwan dem Schrecklichen begonnen hat?)

In meinem Artikel handelt es sich allerdings keineswegs um diese oder jene Vorwürfe gegen diese oder jene Personen, sondern um eine Methode zur Erkennung der Funktionen der Kenntnis und des Glaubens, die in jedem Menschen und im Massenbewusstsein dominieren.

Es ist nicht unbedingt so, dass eine Gesellschaft, die nach Kenntnissen strebt, effizienter ist als eine Gesellschaft, die sich vor allem auf den Glauben stützt. Am Beispiel des modernen Europas sehen wir, dass die Europäer in einigen Momenten dem "Islamischen Staat" zurückliegen, der dem Massenbewusstsein (dem Bewusstsein der europäischen „Normalbürger") viel attraktivere — und deswegen effizientere — Konstruktionen als den Multikulturalismus oder die EU-Toleranz bietet.

In diesem Sinne hätte Russland sicherlich alle seine Gegner schon längst bezwungen, wenn die meisten Bürger Russlands an ihr Land und die Richtigkeit der Entscheidungen des russischen Establishments geglaubt hätten. Aber einen solchen Glauben gibt es nun einmal nicht. Dabei glaubt der Durchschnitts-Beamte höchstwahrscheinlich, dass sich das geringe Vertrauensniveau seiner Mitbürger zu den Machthabern vor allem auf die ineffiziente Propaganda und die mangelhafte Erziehungsarbeit mit Jugendlichen zurückführen lässt. (Diese Meinung resultiert übrigens ebenfalls aus dem Glauben, der sich auf die Präsumtion der Tugendhaftigkeit staatlicher Institutionen stützt.) In Wahrheit aber ist in Russland derzeit eine Situation entstanden, in der sowohl die Kenntnis als auch der Glaube verfallen. Und da steht die Propaganda irgendwo an zehnter Stelle.

Viele, sehr viele Menschen glauben nicht an Russland und an seine Zukunft, weil sie nicht wissen, worauf es sich gefasst machen müsste. Dabei verzichten immer mehr Menschen an die Kenntnis, weil es viel zu anstrengend ist: viel zu lesen, zu analysieren, zu vergleichen und zu denken. Dafür haben die Menschen nun einmal keine Zeit, denn sie müssen Geld verdienen, um banal zu überleben.

Dabei ist es für den Menschen ohne Kenntnisse ziemlich typisch, sich an den Glauben zu klammern, egal ob an den Gott oder daran, dass es keinen Gott gibt.

Am Ende fasst in Russland, wie auch in der christlichen Welt generell, eine Art Glaube an die Glaubenslosigkeit, eine Art Postatheismus, Fuß. Er stützt sich nicht nur auf die Ablehnung der Göttlichen Wahrheiten, sondern auch auf die ausdrückliche (und quasi begründete — aus der Sicht des „gesunden Pragmatismus") Respektlosigkeit gegenüber allem, was des Respekts würdig ist, darunter gegenüber den Kenntnissen, der Glaubwürdigkeit von Informationen, dem absoluten Wert von Traditionen usw. der Glaube an die Zweckmäßigkeit der Glaubenslosigkeit ist bequemer. Der Zynismus (bzw. die Glaubenslosigkeit) ist günstiger als die Romantik (der Glaube an das Gute) und sogar als der Realismus (die Kenntnis), wenn er in Geldscheinen gemessen wird.

Was den erwähnten Schriftsteller Sorokin angeht, so ist der fehlende Glaube an Russlands Zukunft nicht nur die Zweckmäßigkeit, sondern auch meines Erachtens die durchdachte und herauskalkulierte Notwendigkeit. Denn erstens muss man sich keine Mühe geben, sich in der Geschichte Russlands auszukennen, zweitens ist es einfach leichter, sich der neuen Heimat anzupassen, und drittens ist es dann leichter, sich von der historischen Heimat zu verabschieden.

Was haben die Bleibenden zu tun?

Die Technologie des Unglaubens an Russlands Zukunft, die sich auf die Unfähigkeit bzw. Weigerung, das zu verstehen, stützt, wie man die aktuelle Situation im Land und in der Welt ändern könnte, zu der auch die banale Gekränktheit hinzukommt („Man hat mein Talent nicht erkannt!"), ist so alt wie die Welt selbst. Mit Behauptungen wie „Russland zerfällt" wurde unser Land noch im frühen 20. Jahrhundert konfrontiert. Doch während die Roten damals alle Menschen, die an etwas anderes als sie selbst glaubten, außerhalbRusslands verdrängten, ist die aktuelle Situation etwas anders: Wer gegenüber den Perspektiven der russischen Großmacht pessimistisch ist, flüchtet selbst vom „versinkenden Schiff".

Die Frage: Was haben diejenigen zu tun, die es vorziehen, zu bleiben?

Einst zeigte der bekannte sowjetische bzw. russische Philosoph Alexander Sinowjew mit seiner Rückkehr in das „versinkende" Russland, was ein russischer Mensch (und vor allem ein russischer Schriftsteller) in einer für sein Land kritischen Situation tun könnte und sollte. Das ist nicht nur eine würdige, sondern auch günstige Position: Alles Mögliche dafür zu tun, damit Russland eine gute Zukunft hat.

Man muss die Gegenwart verändern, aber nicht dadurch, dass man aus einem extrem primitiver Schemata in ein anderes fällt, sondern sich dabei auf die Kenntnis stützt, was man hier und jetzt zu tun hat: nämlich Russland aus der Falle „liberaler" Ideen und „Privatisierungen" und aus den Labyrinthen der „konservativen Alternative" und verschiedener „Nationalisierungen" zu befreien.

Alexander Sinowjew bemühte sich darum, die Ideologie der Wissenschaft näher zu bringen, denn er sah voraus, dass in Russland bald die Zeit der Obskurität ausbrechen würde. Und diese Zeit scheint gekommen zu sein. Und die wichtigste Ursache dieser Obskurität ist weder die Opritschnina noch die Last der Herrschaft der Tataren und Mongolen oder des sowjetischen „Totalitarismus". Der Hauptgrund besteht in der Infantilität der „Besserwisser", die in Wahrheit aber nichts wissen, allerdings davon keine Ahnung haben.

Es ist allgemein bekannt, dass eine nationale Ideologie nicht in der Machtetage entsteht, sondern immer in der Gesellschaft — unter den Menschen, die die Wahrheit erfahren und nachvollziehen wollen, und nicht mit dem Strom schwimmen, indem sie sich für Schwimmer geschweige denn für den Kapitän ausgeben.

Der Westen stützt sich bekanntlich auf dem Weg in die „helle Zukunft" nicht nur auf die Idee des sozialen Fortschritts, sondern vielmehr auf die Gesetze der „Marktwirtschaft".

Das moderne Russland als Peripherie des marktwirtschaftlichen Westens hat im Moment noch die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen: Entweder wird es eine noch entlegenere Peripherie der westlichen Welt, oder versucht es, eine selbstständige Größe zu werden. Und wenn es sich für den zweiten Weg entscheidet (danach sieht es jedenfalls aus), dann muss sie sich erstens nach seinem Binnenmarkt und zweitens nach einer Ideologie richten, die nicht nur vom Glauben ausgeht, dass Russland seinen eigenen Entwicklungsweg hat, sondern auch von der Kenntnis, wie das zu erreichen ist.

Jegliche Varianten ohne eine wissenschaftliche Kenntnis und ohne den Respekt dafür, was sich auf den Glaube an den Sieg der Vernunft und des Guten stützt, sind im Grunde eine ewige Bewegung von der staatlichen Gewalt zum Volksaufstand und zurück.