Unlängst ist ein Interview Wladimir Putins für die deutsche „Bild"-Zeitung veröffentlicht worden. Darin sagte der Präsident auf die Frage über die von Russland in den letzten 25 Jahren begangenen Fehler: „Wir hatten unsere nationalen Interessen nicht verkündet, hätten das aber von Anfang an tun müssen. Dann wäre die Welt heutzutage möglicherweise besser ausbalanciert gewesen." Ich bin allerdings mit dieser These nicht einverstanden. Es ist sinnlos, deine Interessen zu verkünden, wenn die Gegenseite deine Interessen mit dir gar nicht besprechen geschweige denn berücksichtigen will.

30 Dollar pro Barrel, oder die Wirtschaft als Komplott

Vor einem Jahr hatte ich in meinem Artikel „Will man uns wirklich vernichten, oder sind solche Gedanken nichts als Verfolgungswahn?" vermutet, dass die Ölpreise im Laufe eines Jahres auf 20 bis 40 Dollar pro Barrel schrumpfen würden. Das war eigentlich keine Wirtschaftsprognose. Denn ich ging davon aus, dass das internationale Finanzsystem einen „Neustart" braucht, wobei die US-Währung das einzige Zahlungssystem in der Welt bleiben sollte. Alle anderen Währungen sollten nichts als Ableitungen davon und dementsprechend Elemente dieses Systems sein. Das ist die absolute Konstante und das bedingungslose Orientier für unsere „Partner".

Russland ist der größte Risikofaktor bei der Umsetzung eines solchen Plans. Die Senkung der Ölpreise ist ein erprobter und effizienter Handlungsweg. Deshalb wurden sie eben hinuntergeschraubt. Das war eine rein politische Entscheidung, die weder mit dem Nachfrage-Angebot-Verhältnis noch mit dem Marktkampf, noch mit anderen marktbezogenen Faktoren etwas zu tun hatte. Auch Ökonomen betonen, dass es aus der Sicht der Nachfrage bzw. des Angebots keine fundamentalen Änderungen gegeben habe. Die Struktur wandele zwar permanent, aber für einen Preiseinsturz um zwei Drittel habe es keine Voraussetzungen gegeben.

Es gibt die Meinung, dass niedrige Ölpreise wichtig sind, damit auch die Goldpreise niedrig bleiben. Natürlich sollte nichts — auch das Gold — den Status des einzigen Zahlungssystems infrage stellen. Dank des billigen Öls werden gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe getötet. Aber jedenfalls war das nichts als eine Entscheidung einer konkreten Gruppe von Personen, die genug Instrumente haben, um diese Entscheidung ins Leben umzusetzen. Und wer die Bedeutung von diesen oder jenen für ihn wichtigen Wirtschaftsparameter voraussagen können will, der sollte vor allem verstehen, welcher Logik nicht die Marktteilnehmer folgen, sondern die Schlüsselfiguren der modernen Megamacht.

Davon ausgehend, kann man sagen, dass es eine neue Erhöhung der Ölpreise in einem oder zwei Monaten, auf die viele hoffen, gar nicht geben wird. Man wird versuchen, uns weiter zu „erwürgen". Die Gewinne bzw. Verluste konkreter westlicher Korporationen — selbst der mächtigsten und einflussreichsten von ihnen — spielen dabei keine Rolle, weil auf dem Spiel die Weltherrschaft steht.

Wer die ganze Welt beherrscht, wird auch alles andere bekommen (zumal alle transnationalen Korporationen sowieso dieser Megamacht-Gruppe gehören — damit gibt es da keinerlei Interessenkonflikte). Ich würde sogar bei der Planung in der aktuellen Situation davon ausgehen, dass wir in absehbarer Zeit keine Möglichkeiten haben werden, etwas (darunter auch Öl und Gas) in den Westen für vernünftige Preise zu verkaufen.

Ich darf also zusammenfassen: Die Wirtschaft, die einst Marx und andere bekannte Ökonomen beschrieben, gibt es längst nicht mehr. Vielleicht sogar gab es sie auch nie.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass solche Momente wie der Umfang der Produkte, die man herstellen kann, die Preise, für die diese Produkte verkauft werden können, die Profite und Verluste, die Kreditierungs- bzw. Entwicklungsmöglichkeiten usw. im Sinne der Marktwirtschaftsgesetze geregelt werden. In Wahrheit stehen ganz konkrete Personen über all dem, die ganz konkrete Ziele verfolgen. Genauer gesagt sind das keine Personen, sondern eher historisch entstandene Personengruppen — Clans. Und ausgerechnet sie verwalten über alles und nicht die gesichtslosen „Gesetze" der Kapitalbewegung.

Sie haben tatsächlich gewisse historisch entstandene Einstellungen, eine besondere Weltwahrnehmung und ihre internen Mechanismen zur Übergabe dieses ganzen „Guts" von einer Generation zu einer anderen. Und sie verhalten sich entsprechend ihrem Platz in der Gesellschaft und der für diesen Platz typischen Kultur. Ihr Verhalten von den Gesetzen der Kapitalwirkung abzuleiten, wäre falsch. Denn es ist nicht das Kapital, das die Struktur der Beziehungen in der Gesellschaft bestimmt, in der sie die Herrscherrolle spielen, sondern umgekehrt: Die Herrschaftsbeziehungen bestimmen die Bewegungsrichtungen des Kapitals.

Wir haben keine zurückliegende Wirtschaft. Wir haben gar keine Wirtschaft.

Deshalb wird alles, was man gewinnen oder verlieren kann, durch die Systembedingungen seiner Aktivitäten bestimmt, die einem aufgezwungen werden. Und falls dort, „ganz oben" beschlossen wird, dass man nie reich werden soll, egal ob man Öl fördert oder High-Tech-Produkte herstellt, oder seine Produktionseffizienz um das Tausendfache erhöht, oder seine Infrastruktur bis zum Mond aufbaut — dann hilft einem nichts.

Die Bedingungen für seine Tätigkeit, beispielsweise die Preise für seine Produkte bzw. Dienstleistungen, die Kredite, Ressourcen, die Zahlungsfähigkeit der Verbraucher usw. — alles wird so arrangiert, wie das „ganz oben" bestimmt wird. Und falls man doch etwas gespart hat, dann wird man doch keine Möglichkeit bekommen, selbst zu entscheiden, was man mit seinen Ersparnissen macht. Egal worin man seine Mittel investiert, selbst in Gold.

Wer der Weltwirtschaft (sprich der US-Wirtschaft) angehört, wird sich in diesem „Betriebssystem" drehen, das von Anfang an über seine Aktivitäten verwaltet, egal womit man sich beschäftigt. Die ganze moderne Weltwirtschaft ist im Grunde das Ergebnis einer Vereinbarung einer ziemlich kleinen Gruppe, deren Mitglieder immer die Möglichkeit haben, ein paar Schrauben zu ziehen und einen entweder mit „Sauerstoff" zu versorgen oder ohne „Sauerstoff" zu lassen.

Meines Erachtens dürfen wir Obamas Worte, Russlands Wirtschaft sollte „in Stücke zerrissen werden", keineswegs unterschätzen. Das ist keine Feststellung, sondern das Ziel, das unter gewissen Umständen auch erreicht werden könnte.

Aus meiner Sicht sind die Vorstellungen, alle unsere Probleme resultieren aus unserer Korruption, aus der Dummheit der Vorgesetzten, aus unserer Rohstoffabhängigkeit, aus dem Demokratiemangel, naiv und illusorisch. Alles ist viel schlimmer: Unser Hauptproblem besteht darin, dass wir keine eigene Wirtschaft haben. Wir haben einfach keine eigene „Betriebshülle", in der unsere Wirtschaftssubjekte bestehen, effizient arbeiten, sich entwickeln usw. könnten.

Das ganze Gerede über Innovationen, Investitionen, Diversifizierung und Importersatz ist im Grunde sinnlos, solange wir kein souveränes Wirtschaftssystem haben. Doch diese Aufgabe ist bisher nicht einmal gestellt worden.

Gestern war es zu früh

Meines Erachtens ist es kein Zufall, dass sie nicht gestellt wurde. 1991 hatten wir absichtlich unsere souveränen Formen der Wirtschaftsorganisation aufgegeben. Man kann sich zwar über die Effizienz bzw. Ineffizienz ihrer sozialistischen Form streiten — das ist aber eine Nebenfrage. Die Hauptsache ist, dass wir auf die „Planwirtschaft" verzichteten und dadurch unser eigenes Betriebssystem aufgaben. Und das passierte, nachdem wir begonnen hatten, unser Öl für Dollar zu verkaufen.

Ausgerechnet in den 1990er-Jahren haben die zahlreichen Berater aus den USA uns vorgeschrieben, wie wir zu leben haben, und so leben wir eben immer noch. Boris Jelzin hat die internationale Anerkennung seiner Legitimität gegen die Integration der sowjetischen Wirtschaft in die US-Wirtschaft im Sinne der Formel „unsere Macht — eure Wirtschaft" ausgetauscht.

Der Rubel wurde damals endgültig zu einem Nebenprodukt des US-Dollars. Die russische Zentralbank wurde zu einer Filiale des IWF und der Weltbank. Wir wurden verpflichtet, einen wesentlichen Teil unseres Exporterlöses an die „Zentrale" zu überweisen, indem wir US-Schuldverschreibungen kaufen. Beträchtliche Kapitalflüsse wurden in Steueroasen gerichtet. Der ganze Bereich der Produktion von Motivationen, Überzeugungen, Vorstellungen wurde westlichen Formaten und dem westlichen Content überlassen. Das ganze russische Steuersystem und die staatliche Regelung der Wirtschaftsaktivitäten wurden enorm kompliziert, bürokratisiert usw.

Putins Team, das 2000 an die Macht gekommen war, musste andere Probleme lösen und hatte keine Zeit, sich mit der Wirtschaft zu befassen. Die Spaltung des Landes musste dringend verhindert werden. Man musste die zahlreichen regionalen „Barone", Oligarchen und Großkriminelle in den Griff bekommen. Und die Situation irgendwie stabilisieren. Das hat Putins Team geschafft.

Dass die Aufgabe zur Entwicklung unseres eigenen Wirtschaftssystems damals nicht gestellt wurde, war durch etliche andere Faktoren bedingt: die konzeptuelle Elend (in der UdSSR war die Wirtschaftsphilosophie längst getötet worden), die uns aufgezwungene Illusion unserer fairen Partnerschaft mit dem Westen, die „Herkunft" der Machtgruppierung selbst. Denn bei den früheren Mitarbeitern der Geheimdienste handelt es sich immerhin um die Wächter des Staates und nicht um die Entwickler des Staates.

Morgen wird es zu spät

Ich denke, wir bleiben immer noch großenteils von denselben Illusionen verfangen. Wir glauben nach wie vor, dass wir Chancen haben, sich in ihr System unter würdigen Bedingungen zu integrieren. Wir hoffen, klüger geworden zu sein.

Früher glaubten wir, man würde uns lieben und in eine große zivilisierte Familie aufnehmen. Jetzt glauben wir, dass alle ihre eigenen Interessen haben und dass wir imstande sein müssen, unsere Interessen zu verteidigen.

Soweit ich verstehe, ist unsere aktuelle Anwesenheit in Syrien ausgerechnet dadurch bedingt: Das ist nun einmal ein Einsatz, um unsere „Partner" zur Kommunikation mit uns und zur Rücksichtnahme auf unsere Interessen zu zwingen. Wir verstehen aber aus meiner Sicht nicht ganz, dass wir es mit einer Gruppe zu tun haben, die in der ganzen Welt herrschen will: nicht nur dominieren, herumkommandieren, sondern auch einen großen Teil der Menschheit „entmenschlichen" und ihn quasi besitzen, als wären diese Menschen ihre Haustiere.

Wir halten diese Personen für Partner, aber sie wollen alle Menschen zu ihren Sklaven machen. In Wahrheit haben sie keine Interessen, denn die Bestrebung, alles zu besitzen, ist eigentlich kein Interesse. Bei den Interessen handelt es sich immerhin um gewisse Beziehungen zwischen verschiedenen Seiten, die den Status voneinander respektieren.

Vielleicht gelingt es Russland, Partner in Deutschland, Frankreich oder Italien, oder auch in China zu finden. Aber wir müssen verstehen, dass wir keine Partner für sie sind, solange wir kein eigenes Wirtschaftssystem haben.

In Wahrheit ist es für uns höchste Zeit, die Aufgabe zum Aufbau unserer Wirtschaft zu stellen. Der Zeitpunkt ist sehr günstig dafür. Auf der Krim und im Donezbecken haben wir unsere Entschlossenheit und in Syrien unsere Kampffähigkeit unter Beweis gestellt. Unsere „Partner" werden es wohl nicht wagen, sich mit uns direkt anzulegen. Den "Islamischen Staat" und den anderen Abschaum werden wir wohl effizient und relativ blutlos außerhalb unseres Territoriums in den Griff bekommen. Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir unseren „Partnern" zu verstehen geben würden, dass wir bereit wären, nicht nur mit ihren Instrumenten wie IS, sondern auch mit deren Herrschern klarzukommen.

Wir haben also eine gute Chance, einen Krieg auf unserem Territorium zu verhindern. Zudem geht es unseren „Partnern" selbst nicht besonders gut — sie sind im Moment sehr anfällig. Ihr Glaube an die Ewigkeit des Dollar-Systems ist inzwischen viel schwächer als früher: Es gibt im Moment keine Alternative dafür. Doch das könnte sich irgendwann ändern.

Die Aufgabe zum Aufbau eines souveränen Wirtschaftssystems ist durchaus lösbar, wenn wir sie eben als Aufgabe wahrnehmen. Aber meines Erachtens müsste nur der Präsident sie als seine Aufgabe wahrnehmen, ohne ihre Erfüllung jemandem zu überlassen. Gemeinsam mit einer kleinen zuständigen Expertengruppe müsste er die wichtigsten Momente des russischen Wirtschaftssystems erwägen. Dafür sind keine Institute nötig, die jahrelang daran arbeiten würden. Es genügen wohl acht bis zehn Experten, die ohnehin seit zehn oder 15 Jahren an diese Fragen denken, die einen Monat Zeit bräuchten, um alles zu besprechen. Solche Menschen haben wir im Lande. Für die Umsetzung dieses außerordentlichen Projekts würden für den Anfang etwa 100 Menschen im Zentrum (im Präsidialamt und in der Regierung) und etwa 900 in den Regionen (300 Bankiers, dank deren Unternehmer günstige Kredite bekommen würden, 300 Top-Manager und 300 Beauftragte bei den Gouverneuren) genügen. Es finden sich doch 1000 Menschen in unserem Land, um dieses Projekt umzusetzen, oder? Die Hauptsache ist, ihnen eine klare und deutliche Aufgabe zu stellen.

Wenn dieses Projekt umgesetzt wird, könnte ein neuer Gesellschaftsvertrag erstellt werden, was auch die soziale Situation im Lande stabilisieren würde. Heute werden die Beziehungen nach der Formel entwickelt: Das Volk duldet die Regierung und mischt sich nicht in ihre Geschäfte ein, und die Regierung erhöht allmählich das Lebensniveau des Volkes". Wenn das Volk zusätzlich ausgebeutet wird, funktioniert diese Formel nicht mehr. Damit rechnet die Megamacht-Gruppierung eben.

Eine alternative Formel wäre: Das Volk wäre bereit, eine vorübergehende Senkung seines Lebensniveaus zu dulden — bei der Bedingung, dass die Gerechtigkeit und Entwicklung herrschen. Die Gerechtigkeit ist ein wichtiger Aspekt. Denn bei all dem Umfang der Ungerechtigkeit, die in den Regionen vorkommt, wird Russland nicht lange bestehen. Jeder Mensch muss sicher sein, dass es eine Tür gibt, an die er klopfen kann, um nach der Wahrheit zu suchen. Die Justiz und das Rechtsschutzsystem machen übrigens einen wichtigen Teil dieses Wirtschaftssystems aus.

Wir dürfen nicht die Entwicklung unserer eigenen Wirtschaft auf die lange Bank schieben. Sonst könnte es zu spät werden.