Das vergangene Jahr hat uns endgültig an den Punkt gebracht, wo wir bei der Analyse unserer historischen Situation auf das Wort „politische Korrektheit" verzichten müssen.

Das lässt sich auch anders sagen: Es geht nicht darum, unsere so genannten Opponenten oder Partner von irgendwas zu überzeugen. Diese Aufgabe ist nicht nur hoffnungslos, sondern vielmehr sinnlos. Sie irren sich keineswegs. Sie wissen und verstehen alles sehr gut: sowohl über ihre wahre Rolle in den Beziehungen mit uns, über unsere Schwächen ihnen gegenüber, über unsere Bereitschaft, ihnen zuzuspielen, was vor allem unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin zu sehen war. Unsere Strategie zur Eindämmung des Westens ist völlig gescheitert. Ausgerechnet sie hat dazu geführt, dass der Westen an seinen Sieg im Kalten Krieg glaubt, obwohl vorher quasi ein Unentschieden vereinbart worden war.

Es geht auch nicht darum, dass wir unsere Fernsehgegner demonstrativ besiegen, die (immer dieselben) in verschiedenen TV-Sendern auftreten, in Wahrheit aber absolut loyal zu uns sind.

Wir müssen endlich aufhören, uns der totalitären neoliberalen Zensurierung zu unterziehen, vor allem im Hinblick auf unser historisches Bewusstsein, ohne das jegliche Gespräche über die „russische Welt", „russische Zivilisation" usw. eher aus literarischer als aus politischer Sicht nichts wert sind.

Wir haben bereits die Notwendigkeit und — pragmatisch gesagt — den Wert des Staates begriffen. Des Staates, von dessen historischem Ableben man uns überzeugen wollte und immer noch will — und zwar nicht mehr die Kommunisten, sondern ihre bösen Feinde, die Neoliberalen und Anhänger der allgemeinen verwaltbaren Demokratie.

Wenn es keinen Staat gibt, dann gibt es auch kein akzeptables Lebensniveau — es entsteht dadurch ein vorhistorisches Chaos. Und mit den Folgen des Zusammenbruchs eines solchen Staates müssen sich dann gleich mehrere Generationen auseinandersetzen.

Aber etwas verstehen wir immer noch nicht: Welchen Staat brauchen wir wirklich und dementsprechend welchen Staat müssen wir haben? Die nächste Falle für unsere historische Selbstbestimmung steht bereits auf dieser Ebene.

Lasst uns die ganze alte Welt völlig zerstören, und dann… Dann bauen wir alles nach den „richtigen" — also antihistorischen — Modellen. Als würden wir wissenschaftlich begründete Gesetze der Gesellschaftsprozesse kennen, die für jeden Ort und jede Zeit richtig sind — genauso wie die physikalischen Gesetze. Das klingt doch so attraktiv! Für eine solche Idee ist keine Reproduktion davon nötig (sie ist sogar schädlich), was es früher gab — also jegliche Nachhaltigkeit, jegliche Traditionen sind unangebracht, wie auch jegliche Kultur als Begriff.

Man schlägt uns vor, ausgerechnet so ein liberaldemokratisches Russland aufzubauen, das es nie zuvor gab. Auffallend ist, dass nach denselben Regen ein „neues Russland", nämlich die Sowjetunion schon gebaut wurde. Aber sehr schnell — schon unter Stalin — stellte sich heraus, dass das „modernisierte Russland" weder aus sozialer noch aus industrieller, noch aus kultureller Sicht der Nachfolger des historischen Russlands werden konnte.

Es muss viel mehr reproduziert werden als man etwas Neues von Anfang an bauen könnte, das funktionieren würde. Und der Große Vaterländische Krieg trug dazu bei, dass die Armeetraditionen aus der Vorrevolutionszeit und das Kirchenleben wieder zum Alltag der Menschen wurden. Und es ist unwichtig, wie viele Versuche es später gab, eine radikal neue kommunistische Zukunft aufzubauen. Wenn wir begriffen hätten, wie beschränkt in Wahrheit der Umfang von lebensfähigen historischen Innovationen ist, dann hätten wir vielleicht viele von ihnen aufbewahren können.

Es ist ja lächerlich, über ein neues Russland zu sprechen, das angeblich erst seit 1991 bestünde — unter der von Peter dem Großen eingeführten weiß-blau-roten Flagge mit dem zweiköpfigen Adler aus den Zeiten von Iwan dem Schrecklichen. Unsere Gesellschaft versteht allmählich, dass unser Staat historisch ist — diese Idee befestigt sich in unserem Bewusstsein, auch wenn mit einer großen Verspätung. Dabei können wir uns auf die Erfahrungen nicht nur des Vorrevolutions-Russlands, sondern auch auf die grandiosen historischen Erfahrungen der Sowjetunion stützen.

Die zweite Falle für eine angemessene (sprich konkurrenzfähige und der internationalen Überlebenspraxis großer Völker entsprechende) historische Selbstbestimmung steht bereits auf dem Abschnitt des Wegs, wo der Historismus der staatlichen Praxis zum anerkannten Beginn wird. Der Sinn des neuen attraktiven Angebots besteht im Folgenden:

Lasst uns für unseren historischen Staat den so genannten Nationalstaat halten. Warum nicht? ist Russland etwa kein Staat der Russen? Wird etwa nicht dadurch sein historisches Wesen bestimmt? Und wenn das nicht immer so war, warum sollte das nicht künftig so sein? Auch die europäischen Staaten sind alle Nationalstaaten. Und wenn sie von diesem Prinzip abtreten, dann kriegen sie Probleme mit dem Multikulturalismus und den Einwanderern.

In seinem inzwischen klassischen Werk „Imagined Community" zeigte Benedict Anderson ganz deutlich, dass alle so genannten nationalen Gemeinschaften und ihre nationalistischen Ideologien (denen zufolge eine Nation ihren eigenen Staat haben müsste) keine naturhistorische Herkunft haben, sondern im Grunde momentane (aus historischer Sicht) Konstruktionen der gesellschaftlichen Einbildungskraft sind.

Mit anderen Worten wissen nicht nur die Letten samt den Ukrainern nicht, dass sie von jemandem erst vor einer relativ kurzen Zeit ausgedacht hat, und zwar für einen ganz bestimmten technischen Verbrauch. Dasselbe kann man auch von den modernen Franzosen oder Deutschen sagen. Damit diese Behauptung klar wird, muss man sich einfach daran erinnern, dass in den Zeiten, als Frankreich als Staat entstand (also im 17. Jahrhundert, zwischen Richelieu und Mazarin), auf seinem Territorium viele Völker lebten, die sich voneinander sehr unterschieden und dass keines dieser Völker die Staatsmacht innehatte. Dasselbe gilt auch für die germanischen Völker (bereits im 19. Jahrhundert), aber gab es zwei Staaten (Preußen und Österreich), die um diesen Raum konkurrierten.

Die Deutschen haben die nationalistische Einbildungskraft von Hitler. Was daraus geworden ist, ist allgemein bekannt. Ich kann nur bemerken, dass heutzutage die Füllung einer Gemeinschaft mit nationalistischen Ideen (und das Ziel der Verkündung eines Nationalstaates besteht nur darin) in der Praxis zum Verlust der Souveränität und zu einer äußeren Verwaltung führt. Und zudem auch zur Spaltung und zur Vernichtung von reellen historischen Staaten. Ich darf bemerken, dass sich die russische politische Kultur immer auf den politischen Internationalismus stützte — sowohl im zaristischen als auch im sowjetischen Russland. Anders hätte es auch nicht werden können — so ist nun einmal die Basis der historischen russischen Staatlichkeit. Die Russen sind nicht unbedingt Slawen. Bei allen Völkern, die in Russland leben, handelt es sich aus politischer Sicht um die Russen. Die Weigerung der Ukrainer, als Russen zu gelten, hat eine rein politische Natur. An diesem Verzicht gibt es nichts Natürliches, Historisches und Kulturelles. Und auch nichts Ethnisches.

Die wichtigsten Volksgemeinschaften, die die Souveränität bzw. das Überleben in der modernen Welt beanspruchen, stützen sich auf die Kultur des politischen Internationalismus. Das sind die USA und China (wo es auch viele Völkerschaften und Sprachen gibt, die nur offiziell als chinesisch gelten). Die Konkurrenz mit ihnen macht unseren Rückfall zu einer zwerghaften „nationalen Staatlichkeit" unmöglich, an der es nichts wirklich Nationales oder wirklich Staatliches gibt.

Ein politischer Internationalismus ist auch der neue Europäismus — der dem politischen Projekt der Europäischen Union zugrunde liegt. Man muss nur verstehen, dass die auf diese Weise gebildete internationale Gemeinschaft mit dem amerikanischen Internationalismus zusammenwachsen muss. Die französische oder auch deutsche Souveränität wäre möglich, wenn sie selbst nicht in den entsprechenden Nationalismus ausgewachsen wären und in sich die Kräfte gefunden hätten, Staaten mit einer internationalen Volksbasis mit einer dominierenden politischen Kultur zu sein. Aber ausgerechnet das Letztere — der Verzicht auf die politische kulturelle Dominante, die „Toleranz", der „Multikulturalismus" usw. — haben am Ende dazu geführt, dass sie in die nationalistische Reaktion versanken.

Für Russland wäre es lebensgefährlich, zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Nationalstaat, etwa „Russland für die Russen" zu werden. Das einzige, wozu das führen könnte, wäre sein Zerfall in Dutzende Nationalstaaten. Gewisse Kräfte sind daran sehr interessiert und importieren zu diesem Zweck ihre „Demokratie" zu uns. Unter anderem zu diesem Zweck versuchen sie, die so genannte „islamische Frage" aufzuwerfen.

Russland kann nur als historischer Staat eines politischen Internationalismus im Rahmen der dominanten historischen russischen Kultur sich selbst reproduzieren und um sein Überleben kämpfen.

Ein Russe kann jede mögliche Herkunft haben, wenn er die seit Jahrhunderten etablierten Selbstbestimmungsregeln akzeptiert. Dasselbe gilt auch für einen Chinesen. Ob man so etwas von den Europäern irgendwann sagen kann, zeigt sich später. Aber ausgerechnet Europäer und keineswegs „Ukrainer" wollen die Einwohner der Ukraine werden — egal was die ukrainischen Nationalisten davon halten. Das kann auch anders ausgedrückt werden: Wenn wir selbst nicht mehr Russen aus traditioneller bzw. historischer Sicht bleiben wollen, dann wieso sollten die Ukrainer Russen sein wollen?

Eine normale Staatlichkeit, die sich auf die Kultur des politischen Internationalismus als dominante Kultur stützt — darunter des russischen politischen Internationalismus, — ist die imperiale Staatlichkeit. So ist die Staatlichkeit von Russland, den USA und China. Nach Unterschieden zwischen uns als Staaten sollte man also ausgerechnet im Typ des Imperiums suchen, doch zu diesem Zweck müsste man sich zunächst als Imperium anerkennen. Diesen Status als historisch normal anerkennen und sich darin allmählich auskennen.

Ein Imperium, das keine überseeischen Gebiete hat und nicht versucht, die ganze Welt zu regieren, ist der älteste und zeitgeprüfte Typ des Imperiums. Alle seine Territorien bzw. deren Einwohner werden früher oder später gleichberechtigte Teilnehmer des Reichsaufbaus. Rom und Byzanz waren solche. So ist auch Russland. So ist auch China. So hätte auch Europa werden können, wenn es die USA nicht gegeben hätte. Anders waren bzw. sind das Britische Reich und die USA, die versuchen, die ganze Welt zu kontrollieren und davon finanziell zu profitieren.

Ein normales historisches Imperium ist antiglobal. Selbst das Alte Rom hatte kein Ziel, die ganze Welt zu erobern. Bei einem Imperium handelt es sich um einen internationalen Staat (dessen politische Kultur dominant ist), der seine natürlichen Grenzen erreicht hat. Ein Imperium verfügt über einen Raum samt Ressourcen, die für eine eigenständige Existenz ihrer Völker genügen. Nur so ein Imperium kann souverän sein. Nur so ein Imperium kann ausbalanciert, langfristig und nachhaltig von jeglichen Kontakten (vom Handel bis zum Krieg) mit der restlichen Welt profitieren. Man kann ein Imperium als Supermacht bezeichnen, aber dabei wird nur der militärische Aspekt gemeint. Ein Imperium ist eine Entwicklungsvariante für die ganze Menschheit, die mit anderen Varianten — anderen Imperien — konkurriert.

Wenn wir ernsthaft über die multipolare Welt reden — dann sollte das eine Welt mit mehreren Imperien (nicht alle Völker würden dort leben) sein, die einen Weltkrieg gegeneinander vermeiden müssten. Wie gesagt, nützen die „russische Welt", die „russische Zivilisation" nichts für die Lösung dieser Aufgabe. Ohne ein russisches Imperium wird es sie einfach nicht geben. Es ist an der Zeit, die Kinder bei den Namen zu nennen.