In den letzten Tagen jedes scheidenden Jahres fassen Politiker und Politologen seine Ergebnisse zusammen, wobei sie normalerweise die Bedeutung der Ereignisse nach dem Umfang der Siege oder nach Opferzahlen messen. Dasselbe tun auch Ökonomen, die Gewinne und Verluste vergleichen. In der Kinobranche werden die Jahresergebnisse nach den Kassenerfolgen gemessen, in der Literatur nach der Zahl der herausgegebenen Bücher, in der Musikbranche nach der Zahl von Konzerten und verkauften CDs.

Philosophen achten aber nicht auf die Zahl, sondern auf die Qualität der Ereignisse. Darauf, was im vergangenen Jahr im anthroposophischen Sinne passiert ist: mit den Menschen, mit den Gedanken, mit ihrer Weltwahrnehmung und der menschlichen Natur selbst.

Das Schlüsselereignis 2015 für Russland

Als Präsident Wladimir Putin bei einem Neujahrsempfang im Kreml die Ergebnisse des Jahres 2015 zusammenfasste, nannte er das 70-jährige Jubiläum des Großen Sieges das Ereignis des Jahres.

Das ist wirklich so. Trotz all der Turbulenzen des scheidenden Jahres, an die wir uns positiv oder negativ erinnern werden, waren die Festlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestags des Großen Sieges in Russland und der ganzen Welt besonders wichtig.

Und wir haben dieses Ereignis gefeiert, wie nie zuvor. Dabei geht es nicht nur um die traditionelle Siegesparade auf dem Roten Platz am 9. Mai, sondern vor allem um den großen Marsch „Unsterbliches Regiment", an dem Millionen Russen teilgenommen haben. Sie haben es „ehrenvoll gegenüber ihren Vätern und Großvätern begangen, von deren Schicksal sie sich inspirieren ließen", betonte der Präsident.

Und was war an diesem Marsch besonders wichtig? Natürlich nicht die Tatsache an sich, dass Millionen Menschen durch die Straßen russischer Städte gingen, obwohl auch das von der Bedeutung dieser Veranstaltung zeugt. Besonders wichtig war aber der Sinn, mit dem diese Aktion gefüllt war.

Der Sinn besteht darin, dass die Russen — egal welcher Nationalität und in welchem Alter sie sind oder welche politischen Überzeugungen sie haben — diesen Sieg und die Generation im GEDÄCHTNIS halten, die uns und der ganzen Welt Ruhe und die Möglichkeit geschenkt hat, ganze 70 Jahre ohne Kriege zu leben.

Es ist wichtig, dass das russische Volk unter den Bedingungen des neuen Kalten oder des „Hybrid-Kriegs", oder sogar eines neuen Weltkriegs, der uns wieder aufgezwungen wird, nicht auf den Nationalismus oder irgendein anderes egoistisches Gefühl, sondern auf die Geschichte des Landes zurückgreift und an die Menschen denkt, die für ihre Heimat ihr Leben gelassen haben.

Das Denken an diese Menschen macht die Basis unserer heutigen Vereinigung angesichts neuer Gefahren aus.

Ich muss betonen, dass sich die Welt am 70. Jahrestag unseres Großen Sieges gespalten hat: in diejenigen, die zur Siegesparade in Russland gekommen sind, um die Todesopfer des Zweiten Weltkriegs zu verehren, und diejenigen, die den 70. Jahrestag des Sieges über den Faschismus ignoriert haben und dadurch ihre GEDÄCHTNISLOSIGKEIT bewiesen haben, weil sie faktisch die Lehren aus dem schrecklichsten Krieg in der Geschichte der Menschheit nicht anerkennen wollten.

Schlüsselereignis 2015 für die Welt

Proeuropäische Aktivisten werden wohl meiner Behauptung, dass die EU-Politiker ihre Gedächtnislosigkeit gezeigt haben, widersprechen, dass in Europa der Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai begangen worden sei, dass an diesem Tag Blumen niedergelegt worden seien, dass Kerzen zum Gedenken der Kriegsopfer massenweise angezündet worden seien usw. Das stimmt zwar: Dass an diesem Tag um die Kriegsopfer getrauert wurde, ist auch mit dem Gedächtnis der Teilnehmer dieser Veranstaltungen verbunden — genauso wie der Tag des Sieges. Die Frage ist nur, ob dieses Gedächtnis vollständig ist.

Selektives Gedächtnis, wenn jemand die Geschichte entstellt sieht und an die Kriegsopfer denkt, ohne daran zu denken, wer diesen Krieg entfesselt und Millionen Menschen getötet hat, ist eine Parodie auf das Gedächtnis. Aber ausgerechnet das sehen wir heutzutage in Europa: Dort „erinnert" man sich an den Zweiten Weltkrieg auf seine Art, wobei nämlich die entscheidende Rolle der Sowjetunion für den Sieg verschwiegen wird.

Ausgerechnet auf diese Gedächtnislosigkeit lässt sich die Barbarei zurückführen, mit der heutzutage sowjetische bzw. russische Soldatendenkmäler in manchen europäischen Ländern zerstört werden, wie auch die Unterstützung des aktuellen ukrainischen Regimes durch die EU-Strukturen, das alles gefährdet, was russisch, sowjetisch und antifaschistisch ist.

Diese neue Deutung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs resultiert daraus, dass Europa kein vollwertiges Subjekt der Weltpolitik mehr ist, dass es inzwischen nur ein Objekt der Weltpolitik geworden ist. DAS IST DAS SCHLÜSSELEREIGNIS DES JAHRES 2015 FÜR DIE WELT.

Europa war das Hauptsubjekt der Weltgeschichte im Laufe von 1000 Jahren gewesen, aber im vergangenen Jahr spaltete sich die Konstruktion des einheitlichen Europas in antagonistische Elemente. Noch mehr als das: Inzwischen dominiert dort ein prinzipiell neuer anthropologischer Typ im Vergleich zu dem, der nach Christi Geburt entstanden war. Ich würde diesen Typ als „Menschen ohne Gedächtnis" bezeichnen. Faktisch handelt es sich dabei um eine Art soziale Amnesie, genauer gesagt, um die Art dieser Krankheit, die in der Psychologie als retrograd qualifiziert wird.

Natürlich hatte die Europäische Union als wichtigste gesamteuropäische Organisation ihren Status als geopolitisches Subjekt — wegen des Verzichts auf ihr historisches Wesen — viel früher als 2015 verloren. Aber im vergangenen Jahr wurde endgültig klar, dass es keine selbstständige europäische Subjektivität (als EU, PACE oder sonst was) mehr gibt. Alle diese Strukturen wurden von einem anderen — noch globaleren — Mechanismus verschluckt, der „Amerikanische Welt" bzw. „Neue Weltordnung" genannt wird.

Die EU und die nationalen Regierungen (da sind offenbar selbst die superautonomen Vatikan und Monaco keine Ausnahmen mehr) scheinen ausschließlich im Rahmen der strategischen Einstellungen zu denken und zu handeln, die in Washington bestimmt werden. Und nur London und Brüssel dürfen dabei teilweise mitwirken.

Westeuropa stimmte dem US-Außenministerium im Kontext aller wichtigsten internationalen Probleme des vergangenen Jahres voll und ganz zu, nämlich bei der Einschätzung der Situation in der Ukraine, in Syrien usw.

Trotz einiger Debatten in der Nato akzeptierten alle Länder der Allianz absolut alle Verfügungen Washingtons. Obwohl die Regierungen gleich mehrerer Länder (darunter Italiens, Ungarns, Griechenlands usw.) die antirussischen Sanktionen nicht mehr verlängern wollten, mussten sie der Verlängerung doch zustimmen. Trotz der Terroranschläge in Frankreich konnte dieses Land (das zuvor den „Mistral"-Vertrag mit Russland verloren hatte) nicht am Kampf gegen die Terroristen im Nahen Osten vollwertig teilnehmen, weil es von Washington keine Zustimmung bekommen hatte. Und Deutschland, das mit einem gewaltigen Flüchtlingsansturm konfrontiert wurde, konnte aus demselben Grund seine Außenpolitik nicht ändern.

Meines Erachtens wurde sogar der Umfang der Beteiligung der beiden Länder an den Minsker Friedensvereinbarungen über die Regelung der Ukraine-Krise von Washington festgelegt.

Wie in Russland die Gedächtnislosigkeit der Europäer eingeschätzt wird

Im vergangenen Jahr kam es zu einem endgültigen Untergang Europas — in dem Sinne, in dem es der bekannte deutsche Philosoph Oswald Spengler, der später von den Nazis brutal gehetzt wurde, vorausgesagt hatte. Dabei macht man sich in Russland große Sorgen über den Verlust der Subjektivität Westeuropas — wenigstens deswegen, weil die Europäer für die Russen nach wie vor die wichtigsten Handelspartner sind.

Die Russen vergessen NIE die Beziehungen mit den westlichen Ländern, gemeinsam mit denen die Sowjetunion die „Pest des 20. Jahrhunderts" besiegt hat, und legen viel Wert darauf. Und auch in der Schule wird die Geschichte des Zweiten Weltkriegs vollständig unterrichtet, ohne dass diese oder jene Nuancen schöngeredet werden.

In unserem Land versteht man auch, dass das heutige Europa gespalten ist, doch auch jetzt gibt es dort viele Kräfte, die sich nicht an den USA und einer unipolaren Welt orientieren, sondern an den Modellen der Weltordnung (multipolare Welt), für die Russland offen und konsequent steht. Dementsprechend will die russische Führung keineswegs diese aktuellen und potenziellen Partner in Europa und im Westen generell verlieren.

In einer solchen Situation ist in Russland die Idee von einem „Neustart" der Beziehungen mit dem neuen Europa entstanden — mit dem Teil Westeuropas, für den das Gedächtnis und solche damit verbundenen Begriffe wie „Traditionen", „wahre Geschichte", „christliche Welt", „europäische Zivilisation", „Kulturerbe" usw. keine leeren Töne sind.

Russland ist zu einem „Neustart" seiner Beziehungen mit Europa (Deutschland, Frankreich usw.) bereit. Die Frage ist nur, wer und wann zu einem solchen „Neustart" auch in Westeuropa bereit wäre, das mit Gedächtnislosigkeit, Ratlosigkeit und Angst gefüllt wird.