In seiner Rede vor den Teilnehmern des russischen Jugendforums „Territorium der Sinne“ sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow: „Wir beobachten das Ende einer sehr langen Epoche, nämlich der langen Epoche der Dominanz des historischen Westens, der wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Dominanz“.

Diese Worte lösten widersprüchliche Reaktionen in der Gesellschaft aus. Auf der einen Seite sagten liberale Oppositionelle und ihre Anhänger: „Der Westen fault schon seit Jahrhunderten. Es wäre toll, wenn auch wir so faulen würden.“  Auf der anderen Seite meldeten sich radikale Patrioten, die den baldigen Tod unseres größten Feindes vorhersagen, dem unser Glück und Gedeihen sofort folgen würde.

Beide Reaktionen waren bzw. sind aber völlig sinnlos. Lassen Sie uns analysieren, worauf sich die globale Dominanz des Westens stützt und ob es dabei Probleme gibt.

Wissenschaft

Die jahrhundertelange Dominanz des Westens stützte sich vor allem auf die europäische Wissenschaft und die wissenschaftliche Denkweise, die das Engineering prägte. Ein richtiges „Idol“ des westlichen Menschen war jahrhundertelang der wissenschaftlich-technische Fortschritt.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeichneten sich aber auf dem Gebiet Wissenschaft und Engineering zwei Tendenzen ab: Erstens wurde die Zahl der fundamentalen wissenschaftlichen Erfindungen wesentlich geringer. Zugleich gab es auch seit dieser Zeit nicht mehr so viele Gebiete, auf denen in absehbarer Zeit solche Erfindungen gemacht werden könnten. Zweitens wurden die wissenschaftliche Denkweise und das Engineering für alle zugänglich und waren nicht mehr nur dem Westen vorbehalten.

Seit vielen Jahrhunderten stützte sich die westliche Dominanz darauf, dass der Westen die Wissenschaft und das Engineering innehatte, was auch seine militärische Überlegenheit bedingte. Die militärische Überlegenheit ermöglichte verschiedene Formen des Kolonialismus und den Besitz von Bodenschätzen. Daraus entstand auch die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens. Gleichzeitig war das auch der wichtigste Grund für den westlichen Rassismus, wobei die Ideologie des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auch das Sozialwesen beeinflusste und den Menschen, die im wissenschaftlich-technischen Bereich überlegen sind, auch die genetische Überlegenheit zusprach.

Allerdings ist die wissenschaftlich-technische „Kluft“ zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen in den letzten 100 Jahren viel kleiner geworden, und es gibt kaum Zeichen dafür, dass sie wieder größer werden könnte. Im Gegenteil: Wenn sich die Geschichte natürlich entwickelt, wird diese „Kluft“ noch kleiner werden und am Ende überhaupt verschwinden. Dabei könnte auf diesem Gebiet auch ein neuer Spitzenreiter entstehen.

Eine künstliche Alternative für einen solchen natürlichen Verlauf des historischen Prozesses könnte ein großer Krieg oder eine Großzahl von relativ kleinen Kriegen werden, die den Nicht-Westen um 100 Jahre zurückwerfen würden. Im zivilisierten Westen versteht man das ganz gut und greift auf solche Mittel gerne zurück.

Wirtschaft

Beim Kapitalismus handelt es sich um eine Erfindung des Westens. Er ist aus der Wissenschaft und dem Engineering als eine besondere Organisationsform der Wirtschaft entstanden und war lange Zeit eine der Stützen der westlichen Überlegenheit. Heutzutage ist der Kapitalismus das Weltsystem, das gewonnen hat. Er ist wirklich global.

Auf der einen Seite ist die Erweiterung der Absatzmärkte als Mittel der kapitalistischen Entwicklung inzwischen erschöpft, denn es gibt nun einmal keine Möglichkeiten für die weitere Entwicklung. Das natürliche Limit der Entwicklung des Kapitalismus ist erreicht worden. Zum letzten Mal bot sich dem Kapitalismus eine Entwicklungsmöglichkeit nach dem Zerfall des sozialistischen Lagers, was den USA und dem globalen Kapitalismus die defizitlosen 1990er Jahre schenkte.

Auf der anderen Seite hat sich auch die Kreditierung der Verbraucher als Entwicklungsprogramm des Kapitalismus erschöpft. Das Schuldenwachstum als einzige Entwicklungsquelle des Kapitalismus in den letzten 35 Jahren (außer der 1990er-Jahre) wird nach Auffassung  vieler Experten sehr bald wiederum sein Limit erreichen.

Aus der wahr gewordenen Globalisierung folgt noch eine wichtige Beschränkung: Die globale Wirtschaft lässt sich nur sehr schwer ausnutzen, wenn es um politische Ziele geht. Wenn die USA die Ölpreise senken, um Russland zu bestrafen, brechen sofort die Aktienmärkte ein, auf denen die Rohstoffpreise der einzige Wachstumsfaktor sind. Wenn die USA immer neue Dollar emittieren, um ihre Schulden zu decken, senkt China den Wechselkurs des Yuans, so dass das Defizit der US-Außenhandelsbilanz wieder größer wird. Auch andere Beispiele dafür ließen sich anführen.

Das globale finanzkapitalistische System der amerikanischen Herrschaft stützte sich auf die weltweit größte US-Armee und die permanente Gefahr der Gewaltanwendung. Und sogar nicht nur auf die Gefahr, sondern auf die wahre Gewaltanwendung.

Derzeit ist das Haushaltsdefizit der USA nur etwas geringer als ihre Ausgaben für die nationale Verteidigung. Amerikas militärische Stärke – so, wie wir sie in den letzten 20 Jahren kennen – stützt sich auf den finanziellen Überschuss. Was könnte mit ihr aber unter den Umständen eines finanziellen Defizits passieren?

Dass dieses Defizit früher oder später entsteht, sollte man keine Zweifel haben, denn für das globale kapitalistische System gibt es keinen anderen Ausweg als die Umwandlung seiner riesigen Schulden und die Verluste. Die Folgen dieses heilbringenden Schrittes, auf den alle warten, sind aber in Wahrheit kaum vorhersagbar, und zwar nicht nur aus der Sicht der Zerstörung der westlichen militärischen Stärke. Ein Zusammenbruch des Lebensniveaus und des Konsums in der westlichen Gesellschaft wird für diese zu einer großen Probe.

Wenn aber ein Krieg ausbrechen würde, wäre das eine Möglichkeit, die Stabilität dank einer militärischen Verwaltung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten.

Im Westen können die Menschen nicht mehr außerhalb des Wirtschaftssystems leben, in dem der Konsum der absolute Eckpfeiler ist. Die soziale Struktur der westlichen Welt an sich ist jetzt sehr fragil.

Soziale Struktur

Es gilt, dass die Basis der sozialen Struktur des entwickelten Kapitalismus die so genannte Mittelklasse bildet. Diese bewahrt zugleich auch die westlichen Werte und ist die wichtigste Klasse, dank der die westliche liberale Demokratie ausgeübt wird – sowohl als Mechanismus der Staatsverwaltung als auch als eine Art säkulare „Religion“.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es allerdings zu einer qualitativen Änderung der sozialwirtschaftlichen und politischen Natur der Mittelklasse, die von westlichen Forschern ständig ignoriert wird, denn in der aktuellen Phase des historischen Prozesses ist das ein Problem, das keine Lösung hat. Bei der historischen kapitalistischen Mittelklasse handelt es sich um eine Sozialschicht, die sparen und ihre Ersparnisse vernünftig investieren kann. Das sind Menschen, die ihre Lebenstätigkeit profitabel machen können (wobei ihre Einkommen größer als ihre Ausgaben sind), so dass zwei oder drei Generationen einer Familie davon leben könnten. Der Basisprozess, der die Mittelklasse der kapitalistischen Gesellschaft herausbildete, war der Sparprozess.

Aber in den 1950er- bzw. 1960er-Jahren wurde der Konsum zum wichtigsten Prozess in der westlichen Gesellschaft. Er wurde den Menschen als neuer Basisprozess, als neuer Lebensstil aufgezwungen. Um modern zu sein, müsste man auf das Sparen und Investieren verzichten und das ganze Geld für den Konsum ausgeben.

Die Mittelklasse hatte ein neues Existenzkriterium – den Verbrauchsumfang. Das war der Schlüsselfaktor für die Einschätzung der sozialen Natur der Mittelklasse: Je mehr man verbraucht, desto höher steht man in der sozialen Struktur.

Dieser Wechsel der Natur der Mittelklasse garantierte dem Kapitalismus einen Aufschwung zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren. Indem die Mittelklasse auf das Sparen und auf Investitionen verzichtete und ihr Geld immer nur ausgab, stimulierte sie die Produktion von Verbrauchswaren.

In den 1970er-Jahren brach aber eine Krise aus. In den 1980ern wurde jedoch eine Lösung gefunden: Gerade damals begann die Mode, den Verbrauch mit Kreditmitteln zu finanzieren und auszubauen. Den Menschen wurde die Idee vermittelt, dass es gar nicht so schlimm sei, mehr zu verbrauchen, als man verdient. Die Verluste können mit Kreditmitteln gedeckt werden, um irgendwann später ganz großes Geld zu verdienen und alle Verluste auf einmal zu decken. So war bzw. ist die Große Technologie des sozialen Betrugs.

Damit verwandelte sich die Mittelklasse in den vergangenen 50 Jahren von einer Sozialschicht, die den Gewinn konzentrierte und die Basis der Gesellschaftsreproduktion bildete, in eine Sozialschicht, die Verluste in Form von Krediten konzentriert.

Der moderne Kapitalismus als globales System mit dem Konsum als Grundidee spielte die entscheidende Rolle bei der Entstehung eines neuen westlichen kapitalistischen Menschen. Dieser verwandelte sich von einem sparsamen Investor in einen Verbraucher mit immer größeren Schulden.

Es stellt sich übrigens die Frage: Wo bleiben denn die protestantische Ethik und der wahre Geist des Kapitalismus?

Der Westen hat einen neuen Typ von armen Menschen produziert, die nur aussehen wie eine Mittelklasse, ohne sie wirklich zu sein. Diese Menschen haben ein ganz anderes sozialpolitisches Verhalten als die traditionelle Mittelklasse. Sie sind nicht mehr die Stütze der Gesellschaftsordnung, sondern ihr „schwaches Glied“.

Die Verwandlung der Mittelklasse in ein neues „Lumpenproletariat“ macht die traditionelle westliche Demokratie zu einer realen Oligarchie, wovon man im Westen inzwischen laut spricht. Das ist ein großes soziales Problem, und im aktuellen globalen System des Finanz- und Verbrauchskapitalismus gibt es keine passende Lösung.

Was ist Russlands Vorteil gegenüber dem Westen

Wir haben im Allgemeinen mehrere Probleme der modernen westlichen Zivilisation beschrieben, die die Aufrechterhaltung der westlichen Dominanz beschränken. Dabei sind das längst nicht alle Probleme. Diese Probleme sind wirklich fundamental, doch ihr Bestehen an sich ist noch nicht alles: Die Situation wird dadurch zusätzlich belastet, dass der Westen diese Probleme nicht einräumen will. Was aber passiert, wenn man akute Probleme nicht als solche anerkennt, ist aus den Erfahrungen der Sowjetunion wohl allgemein bekannt. Man sollte zudem begreifen, dass wir nach den Reformen der 1990er-Jahre in vieler Hinsicht (vor allem in der wirtschaftlichen und sozialpolitischen) Teil dieses kriselnden westlichen Systems sind. Damit sind das auch unsere Probleme. Sie können für uns fatal werden, falls wir dem Westen erlauben, sie mit den für die westliche Zivilisation gewöhnlichen Kriegsmitteln zu lösen.

Unser Vorteil gegenüber dem Westen besteht darin, dass wir diese Probleme einsehen und anerkennen – das bedeutet, dass wir die Chance haben, eine Lösung zu finden. Unser Vorteil besteht darin, dass wir in einer anderen – postkapitalistischen – Epoche bereits gelebt haben, auch wenn sie nur experimentell und mit vielen Problemen verbunden war.

Unser Erfolg oder Misserfolg hängt großenteils davon ab, ob wir eine Lösung für die prinzipiellen Probleme der westlichen Zivilisation und zudem auch für unsere eigenen Probleme finden können.