Vor 76 Jahren, am 30. November 1939, begann der Sowjetisch-Finnische Krieg (der Winterkrieg). Die Einstellung zu diesem Krieg ist in Russland (und früher in der Sowjetunion) der Einstellung zum Russisch-Japanischen Krieg 1904-1905 ähnlich. Das hängt teilweise damit zusammen, dass beide Kriege einen lokalen Charakter hatten und später im Schatten größerer Katastrophen standen. Auf den Russisch-Japanischen Krieg folgten der Erste Weltkrieg und der Bürgerkrieg, auf den Russisch-Finnischen Krieg der Große Vaterländische Krieg. Der Krieg gegen Finnland ist bei uns auch deshalb nicht besonders populär, weil er von der Sowjetunion begonnen wurde. Doch bei den Vorwürfen gegen Josef Stalin wegen seines aggressiven Verhaltens, fragen sich die Kritiker nicht, ob er sich anders entscheiden hätte können, und warum er den Krieg nicht verhinderte. Doch das ist am wichtigsten…

Kleinere Staaten – zwischen Hammer und Amboss

„Das Phänomen des Winterkrieges besteht vor allem darin, dass beide Seiten ihn auf ihre eigene Art verhindern wollten“, sagt der Präsident der Assoziation der Historiker des Zweiten Weltkrieges, Oleg Rscheschewski. Was bewegte die Sowjetunion, die in den 1930er-Jahren die Politik der kollektiven Sicherheit kontinuierlich entwickelte, dazu, einen Krieg zu beginnen?

Der Schlüssel für die Antwort auf diese Frage besteht in der Analyse der dramatischen Ereignisse 1938-1939 in Europa, die zum Vorspiel des Zweiten Weltkrieges wurden. Deutschland vollzog am 12. März 1938 den Anschluss Österreichs. Auf die schwachen Proteste in Paris und London antworteten die Nazis, dass die Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland eine innere Angelegenheit des deutschen Volkes sei. Die westlichen Demokratien, die so gerne wegen weniger wichtigen Ereignissen lautstark jammern, akzeptierten diese Antwort. Die englische Note war vor allem an die Öffentlichkeit gerichtet. Vier Monate vor dem Anschluss Österreichs empfing Adolf Hitler geheim Edward Halifax in Obersalzberg. Der englische Lord und Diplomat legte Hitler die Position Londons dar – bei Aufrechterhaltung der Einheit des britischen Imperiums sei Großbritannien bereit, Deutschland freien Handlungsspielraum in Bezug auf Österreich, die Tschechoslowakei und Danzig zu geben.

Das blitzschnelle Verschwinden eines ganzen Staates von der politischen Karte, was von der Liga der Nationen nicht verhindert werden konnte, beunruhigte die Staatsführung der Tschechoslowakei und anderer Länder. Viele wussten, dass Hitler sich nicht mit Österreich begnügen würde.
Die Politik von Nazi-Deutschland ließ auch bei der Sowjetunion keinen Platz für Illusionen. Bereits im April 1938 stellte der Kreml die Führung Finnlands vor die Frage nach der Verlegung der Grenze auf der Karelischen Halbinsel in den Norden. Damals lag die Grenze nur 32 Kilometer von Leningrad entfernt. Im Gegenzug bot die Sowjetunion Finnland ein doppelt so großes Territorium in Karelien an.

Stalin erklärte die Gründe, die ihn zu den Verhandlungen mit Finnland bewegten: „Deutschland ist bereit, seine Nachbarn von jeder Seite anzugreifen, darunter Polen und die Sowjetunion. Finnland kann leicht zur Plattform antisowjetischer Handlungen für jede der beiden größten bürgerlich-imperialistischen Gruppierungen werden – die deutsche und die britisch-französisch-amerikanische. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie überhaupt gemeinsam gegen die Sowjetunion vorgehen und Finnland dabei eine Scheidemünze im fremden Spiel sein könnte, wobei es sich in einen Hetzer eines großen Krieges verwandelt“.

Die Aufgliederung der demokratischen Tschechoslowakei, die sich im September 1938 in München durch die Staats- bzw. Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Italiens zugunsten Hitlerdeutschland vollzog, bestätigte die Glaubwürdigkeit dieser Befürchtungen, wobei gezeigt wurde, wie verletzbar die kleinen Staaten des damaligen Europas waren.

Verhandlungen mit der Sowjetunion in den Augen Tanners

Auch Finnland verstand das. Väinö Tanner, der an den sowjetisch-finnischen Verhandlungen in der letzten Etappe teilnahm, schrieb in den 1950er-Jahren seine Erinnerungen. Er gab zu, dass die Verhandlungen kein einzelnes Phänomen gewesen seien. Sie seien mit der allgemeinen Spannung in der europäischen Politik verbunden gewesen. „Während die Verhandlungen zwischen Finnland und der Sowjetunion mal in Helsinki, mal in Moskau verliefen, wurde der europäische politische Horizont immer finsterer. Die Politik von Hitler-Deutschland wurde zunehmend alarmierender, als jemals zuvor… Am 30. September 1938 wurde das unselige Münchner Abkommen unterzeichnet. Die von Sudetendeutschen besiedelte Region wurde an Deutschland ohne einen einzigen Schuss angegliedert. Doch die Befriedung funktionierte nur eine begrenzte Zeit… Am 15. März 1939 fiel Deutschland mit Panzerdivisionen in die Tschechoslowakei ein, die als unabhängiger Staat nicht mehr existierte. Jetzt wurde klar, dass der Kriegsausbruch nur eine Frage der Zeit war”.

Es war auch offensichtlich, dass der sich ungestraft fühlende Hitler auch weiter auf die kleineren Staaten keine Rücksicht nehmen und sie zu Satelliten machen bzw. besetzen wird. Wie im Fall mit der Tschechoslowakei sollten die Ressourcen dieser Länder unter deutsche Kontrolle genommen werden und sich die Gebiete in eine Plattform für die weitere Aggression verwandeln. Deswegen wäre es naiv zu glauben, dass das an die Sowjetunion grenzende Finnland ein anderes Schicksal erwartete.

Die Rote Armee begann zwar im Sommer 1939 die Vorbereitung auf einen möglichen (jedoch nicht vorausbestimmten!) Krieg mit Finnland, doch Stalin und Außenminister Wjatscheslaw Molotow wollten es nicht so weit kommen lassen. Beide repräsentierten im Herbst 1939 die russische Seite bei den Verhandlungen in Moskau und wollten alle umstrittenen Fragen besprechen.

Doch die Führung Finnlands kam nicht zu den Verhandlungen. Präsident Kyösti Kallio, Premier Aimo Cajander und Außenminister Eljas Erkko hatten wohl wichtigere Dinge zu tun!

Die Delegation Finnlands wurde am 12. Oktober 1939 vom finnischen Botschafter in Schweden Juho Kusti Paasikivi geleitet. Zusammen mit ihm trafen der Gesandte Finnlands in Moskau Yrjö-Koskinen, Oberst Aladar Paasonen und Johan Nükopp im Kreml ein. Am 21. Oktober schloss sich Finanzminister Tanner ihnen an. Später bezeichneten Stalin und Molotow Tanner beinahe als den größten Verantwortlichen für das Scheitern der Verhandlungen. Er wurde auch in Finnland dafür kritisiert. Tanner wollte sich rechtfertigen und schrieb: „Nach dem Krieg, als Finnland verpflichtet war, aufgrund des neuen Vertrags ein größeres Territorium zu übergeben, wurde die finnische Position 1938-1939 kritisiert. Doch damals war kaum ein anderes Herangehen an das Problem möglich“.

Doch die Erinnerungen Tanners lassen Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung aufkommen.   Er schrieb, dass die sowjetischen Vertreter am 12. Oktober auf den Kriegszustand in Europa hinwiesen und betonten, dass die vitalen Interessen der Sowjetunion es erfordern, dass kein einziger Feind in den Finnischen Busen kommt. Im Süden des Gewässers wurden diese Interessen der Sowjetunion durch den Vertrag mit Estland gesichert, doch im nördlichen Teil gab es keine solchen Garantien. Es wurde vorgeschlagen, dass Finnland einen lokalen Vertrag über gegenseitige Hilfe zur Gewährleistung der Sicherheit des Finnischen Meerbusens schließt. Danach war die Rede von einem notwendigen Militärstützpunkt an der Küste Finnlands, wobei die Halbinsel Hanko als ein möglicher Stationierungsort genannt wurde. Zudem wurde Finnland dazu aufgerufen, die Halbinsel Rybatschi bis zu Maattiiuono zu übergeben. Zum Schutz Leningrads hätte die Grenze zwischen den Ländern bis zur Linie Kuolemajarvi – Kjuurola – Muolaa – Lipola verlegt werden sollen. Finnland sollte ebenfalls die Inseln im Finnischen Meerbusen übergeben, darunter Suursari und Kojvisto. Als Entschädigung bot die Sowjetunion Gebiete in Ostkarelien an, deren Fläche viel größer als die zu übergebenden Gebiete war. Um weitere Schwierigkeiten zu vermeiden, beschloss die sowjetische Seite, die Frage nach den Aland-Inseln nicht zu stellen.

Die finnischen Vertreter betonten, dass sie kategorisch gegen den Vertrag über gegenseitige Hilfe seien. In Bezug auf die territorialen Zugeständnisse sagten sie, dass Finnland auf die Unantastbarkeit seines Territoriums nicht verzichten könne. 

Am 14. Oktober wurde der Delegation Finnlands eine Mitteilung überreicht. Die Sowjetunion forderte die Übergabe mehrerer Inseln im Finnischen Meerbusen, einen Teil der Karelischen Halbinsel und der Halbinsel Rybatschi sowie einen Teil der Halbinsel Hanko mit den angrenzenden Gebieten fünf bis sechs Seemeilen südlich und östlich für 30 Jahre zu verpachten. Als Entschädigung wurde Finnland ein doppelt so großes Territorium (5528 Quadratkilometer) in Ostkarelien angeboten. Die Sowjetunion versprach, die Festigung der Aland-Inseln durch Finnland nicht zu verhindern, die Voraussetzung sei, dass kein ausländischer Staat an ihrer Festigung teilnehmen würde.

Die finnische Delegation erhielt das Dokument und fuhr nach Hause, um Anweisungen zu bekommen. Stalin rechnete damit, dass die Führung des nördlichen Nachbarn Zugeständnisse machen würde. Er erinnerte daran, dass die Unabhängigkeit Finnlands weder vom Zaren noch von der Interimsregierung sondern von den Bolschewiki gewährt wurde, und sagte den Finnen: „Weil Leningrad nicht verlegt werden kann, bitten wir, dass die Grenze 70 Kilometer von Leningrad liegt… Wir bitten um 2700 Quadratkilometer und bieten mehr als 5500 Quadratkilometer im Austausch dafür“.
Tanner schrieb: „Uns wurde klar, dass die sowjetische Regierung ernsthaft darüber beunruhigt ist, dass die Sowjetunion in militärische Handlungen nahe des Finnischen Meerbusens sowie an der Küste des Eispolarmeeres einbezogen wird, weshalb die Revision der Grenze nahe Petsamo gefordert wird. Stalin und Molotow nannten England und Frankreich mehrmals mögliche Aggressoren. Stalin erinnerte einige Male daran, dass die britische Kriegsflotte während des Ersten Weltkriegs oft nahe Kojvisto auftauchte und britische Torpedo-Boote aus diesem Gebiet in den Hafen von Petrograd kamen, wobei einzelne Schiffe versenkt wurden. Doch man konnte spüren, dass sie in der Tat Deutschland fürchten. Dieser Staat wurde ebenfalls bei der Besprechung als ein möglicher Aggressor bezeichnet“.

Wahl ohne Wahl

Obwohl die Motive der Handlungen des Kremls für Finnland klar waren, lehnte es den Vorschlag Moskaus ab. Welche Rolle bei dieser Entscheidung die westlichen „Partner“ spielten, ist eine besondere Frage. Weder Großbritannien noch Frankreich oder Deutschland waren an der Stärkung der Sowjetunion im Norden Europas interessiert.

Der Kreml wollte seinerseits nicht darauf warten, womit der „merkwürdige Krieg“ in Europa endet und welche der Großmächte Finnland zu ihrem Satelliten macht. Da die Bitte Moskaus um die Verlegung der Grenze weiter von Leningrad und die Verpachtung der Insel Hanko abgelehnt wurde, stand die Sowjetunion vor der Wahl zwischen zwei Varianten – einer schlechten (das Problem auf militärische Weise zu lösen) und einer sehr schlechten (alles so zu lassen, wie es ist). Dann wählte Stalin, der den Krieg lange verhindern wollte und viel Zeit mit scheiterternden Verhandlungen verbrachte, zwischen zwei Übeln das kleinere. Hätte Stalin eine andere Entscheidung getroffen, wäre das Schicksal Leningrads 1941 noch trauriger gewesen.

Man sollte keine Illusionen darüber haben, dass die Finnen – hätte es den Winterkrieg nicht gegeben, den ganzen Zweiten Weltkrieg über ruhig gesessen hätten. Erstens hätte Hitler, der im April 1940 bereits Dänemark und Norwegen besetzte, Finnland kaum in Ruhe gelassen. Zweitens gab es in der politischen und militärischen Elite Finnlands genug Menschen, die mit dem Dritten Reich sympathisierten und bereit waren, es zu unterstützen. Sie, die die Verhandlungen mit der Sowjetunion torpedierten, waren tatsächlich an dem Winterkrieg schuld.