Nach dem jüngsten Absturz des russischen Rubels stellte sich erneut die Frage nach dem System zur Steuerung des Landes und seiner Effizienz. Die liberalen Aktivisten und Publizisten bestimmten auf eine für sie typische Art den Verantwortlichen – das ist natürlich Wladimir Putin und das „von ihm geschaffene System“. Aus meiner Sicht könnte man die Frage „ob Putin schuld ist oder nicht“ nur in Bezug auf einen Aspekt erörtern: Konnte und sollte er in den vergangenen Jahren seiner Amtszeit das in den 1990er-Jahren geschaffene System des Kompradoren- und Oligarchen-Kapitalismus von Gaidar und Tschubais mit einem politischen Aufbau der lenkbaren nachahmenden Beresowski-Gussinsi-Chodorkowski-Demokratie radikal ändern?

Doch beginnen wir mit dem Rubel-Absturz. Laut dem konservativen Lager ist es eine offensichtliche Schuld der Zentralbank sowie die persönliche Schuld der Zentralbankchefin Elwira Nabiullina. Die rechten Konservativen denken, dass Putin schuld ist, weil er Nabiullina zur Zentralbankchefin ernannt hat. Ich möchte daran erinnern, dass einst über diese Ernennung viel geredet wurde – als ein alternativer Kandidat galt Sergej Glasjew. Es kam sogar zu einem Medien-Skandal um seine mögliche Ernennung. Es wurden zwei Szenarien dargelegt – einerseits würde bei seiner Ernennung das Finanzsystem sofort zusammenbrechen, andererseits könnte das ganze liberale Team seine Posten verlassen (dann wäre es jedenfalls zum Zusammenbruch gekommen). Im Unterschied zu Glasjew wurde Nabiullina vom liberalen Lager als eine Figur wahrgenommen, die Stabilität und ein krisenloses Szenario für das russische Finanzsystem sichern könnte. Die Liberalen erreichten die Ernennung Nabiullinas, wobei die Verantwortung für den Rubel-Absturz auf das ganze liberale Lager gelegt wurde. Der bekannte Liberale und ehemalige langjährige „weltbeste“ Finanzminister Alexej Kudrin sagte vor kurzem, dass die Politik der Zentralbank im Ganzen richtig sei, ausgenommen einzelner unbedeutender Details; an der jetzigen Entwicklung sei aber die russische Abhängigkeit von Erdgas und Erdöl schuld. Vor dem Hintergrund der Abhängigkeit vom Öl und dem Rückgang der Ölpreise könne man nichts mehr tun. Im unserem Kapitalismus-System hat er vielleicht Recht. Doch dann heißt es, dass Putin richtig handelte, als er Glasjew nicht ernannte. Glasjew sollte nur in dem Fall ernannt werden, wenn tatsächlich das Ziel gesetzt würde, das System zu ändern. Sonst würde er einfach „verbrennen“.

Ein paar Worte zur Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas, womit unsere Liberalen alle unsere Probleme rechtfertigen. Hier geht es wieder einmal um Frömmelei und Lügen. Der Vater der Abhängigkeit von Energieträgern war Jegor Gajdar und sein Kreis der liberalen Ökonomen und Reformer. Laut ihrem Konzept handelt es sich bei den staatlichen Ausgaben für Verteidigung, Soziales und Kultur um unproduktive Kosten. Sie sollten gekürzt werden (besser zusammen mit der Bevölkerung), dann würden die Rohstoffeinnahmen für eine reibungslose Förderung und Beförderung der Ressourcen ausreichen. Alles ist doch offensichtlich – wie können wir uns in das so genannte weltweite System der Wirtschaft und Arbeitsteilung einordnen? Nur auf einem Wege – als Ressourcenlieferant. Das ist unser grundlegender Wirtschaftsprozess. Das bedeutet, dass er gewinnbringend gemacht werden muss und noch besser – über-gewinnbringend. Alle unproduktiven Kosten sollten beseitigt werden. Beim Erreichen eines solchen Zustandes können diese Ressourcenaktiva an den Westen verkauft werden. Dieses Konzept gilt auch heute. Es ist nicht verwunderlich, dass das liberale Lager in den letzten 20 Jahren nicht nur kein Projekt zur Entwicklung der Nicht-Rohstoffbranchen vorlegte, sondern auch jede Versuche kontinuierlich zum Scheitern brachte, solche Projekte auszuarbeiten. Kudrin hat innerhalb von elf Jahren als Finanzminister in dieser Richtung nichts getan. Wir haben das Wirtschaftsministerium. Es wurde zunächst von German Gref, dann von Elwira Nabiullina und jetzt von Alexej Uljukajew geleitet. Das sind alles Liberale, die unsere Abhängigkeit vom Öl und Gas verfluchten. Kann man irgendwelche Projekte und Konzepte des Wirtschaftsministeriums der letzten zwölf Jahre zur Überwindung des Hauptproblems der russischen Wirtschaft – der Abhängigkeit von Gas und Öl — nennen? Die Wirtschaftsentwicklung, für die das Ministerium verantwortlich ist, besteht doch in der Überwindung dieser Abhängigkeit. Unsere Liberalen haben nicht vor, diese Abhängigkeit zu überwinden.

Russland ist für den modernen globalen Kapitalismus nur als Quelle von Ressourcen notwendig. Unsere Liberalen sind selbst seit langem ein Teil dieses globalen Kapitalismus. Deswegen soll man ruhig sitzen und keine hektische Bewegungen machen. Der Weltherrscher braucht es, dass wir ruhig das Pumpen der Ressourcen sichern und uns nicht einmischen. Falls wir uns einmischen werden, werden wir bestraft. Uns kann dann selbst das finanziell nicht besonders erträgliche Pipeline-Geschäft weggenommen werden. Alle liberalen Äußerungen über die Rohstoff-Abhängigkeit sollen als Erinnerung daran wahrgenommen werden, dass man seinen eigenen Platz im Weltsystem kennen soll. Wir sind einfach ein rückständiges und fast deindustrialisiertes Rohstoff-Land. Unsere Möglichkeiten sind sehr eingeschränkt. Wollen wir dann keine irrealen Ideen vorantreiben. Zudem können die rückständigen Rohstoff-Länder nicht so groß sein. In der Zukunft soll es fünf bis zehn neue Länder geben. Das würde die Gewinne bei der Förderung erhöhen und die Chancen auf die Änderung des Status im globalen System stark senken. Ein rückständiges Rohstoff-Land soll keine Ambitionen haben, das würde das Treffen der Entscheidung zur Fragmentierung des Landes durch den Weltherrscher nur beschleunigen. Niemand aus dem liberalen Lager wollte gegen die Rohstoffwirtschaft kämpfen, weil sie eben das Ziel ihrer Tätigkeit und der Weg zur Anpassung an die „zivilisierte Welt“ ist. Deswegen lautet die Antwort auf die Frage – wer ist am Rubel-Sturz schuld? – für die Liberalen einfach – das Öl, weil wir ein rückständiges Rohstoff-Land sind und das unser Platz ist, und Putin, der das Gefühl der Realität verlor (er hat vergessen, dass wir das rückständige Rohstoffland sind) und Empörung (die so genannten Sanktionen) des Weltsystems der Arbeitsteilung und seines Herrschers, der USA, auslöste.

Ein weiterer bekannter Liberaler, Michail Chodorkowski, gilt als größter Kämpfer gegen das Autoritarismus-System Putins. Ich möchte jedoch daran erinnern, dass es nicht Putin war, der dieses System ins Leben rief. Es waren gerade unsere Liberalen, die den Parlamentarismus in Russland vernichteten, wobei 1993 das russische Parlamentsgebäude beschossen wurde. Die gültige Verfassung mit den Monarchie-Vollmachten des Präsidenten wurde von unseren Liberalen und Oligarchen auch in den 90er-Jahren geschaffen. Sie wollten selbst diese Vollmachten nutzen, wobei jeder Mensch auf dem Posten des Präsidenten manipuliert werden konnte. Die Verfassung wurde 1994 verabschiede. Zu Manipulationen wurde bereits bei den nächsten Wahlen gegriffen.

Chodorkowski hat wie andere Oligarchen sein Kapital dank politischer Korruption und Erpressung der Macht geschaffen. Ich meine die Pfandversteigerungen, mit denen sich Boris Jelzin bei den Oligarchen für seine Neuwahl bedankte. Diese Situation hat nichts Gemeinsames mit Recht. Jelzin zahlte für Unterstützung und Loyalität. Die rechtliche Natur des Erhaltens der Aktiva von Chodorkowski, Beresowski und Gussinski sieht ebenso aus, wie die Natur ihres Verlustes. Die Aktiva wurden fast gebührenfrei für die Loyalität und Machttreue gegeben, auf dieselbe Weise wurden sie zurückgenommen, weil es keine Loyalität mehr gab, dafür aber Versuche, gegen die Macht zu kämpfen statt sie zu unterstützen. Deswegen ist das ganze Geschrei der betroffenen Oligarchen aus rechtlicher Sicht wenigstens lächerlich.

Das existierende System der lenkbaren imitativen Demokratie wurde nicht von Putin entwickelt. Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz waren angeblich gegen manipulierte Wahlen. Doch es handelt sich darum, dass am stärksten manipuliert die Wahlen 1996 waren, als Jelzin gewählt wurde. Niemand protestierte damals. Wozu soll man ja protestieren, wenn der Weltherrscher, die USA, die Wahlergebnisse bestätigt haben? Proteste gegen die Behörden haben in der heutigen Welt erst dann Chancen auf Erfolg, wenn sie für die US-Amerikaner vorteilhaft sind und von ihnen unterstützt werden. Diese Wahl war für das russische politische System auch ein Vorbild für das Manipulieren des Massenbewusstseins durch die Medien und das Vorbild der unfairen und undurchsichtigen Finanzierung und der Manipulationen beim Auszählen der Wählerstimmen. Unter Putin ist die Zahl der ganzen Komponente zurückgegangen, sie war sicher nicht höher als 1996.

Das gehorsame, kontrollierte Parlament wurde von Chodorkowski bei der Wahl 2003 geschaffen, wobei alle von der Kommunistischen Partei bis zur Partei Jabloko gekauft wurden. Das russische wirtschaftliche und politische System ist nach seiner Herkunft nicht das Putin-System, sondern das liberaldemokratische System, das in den „wilden 90er-Jahren“ gebildet wurde. Unsere Liberalen kämpfen nicht gegen das System sondern gegen Putin. Ihnen zufolge haben sie ein richtiges System geschaffen – wie es ihnen der Weltherrscher befahl – doch es wurde von einem falschen Menschen ergriffen.

Putin hat das System nicht geändert. Er übernahm nur die Führung, erhöhte die Kontrolle ohne globale Konflikte und nutzte sie zur Lösung der wichtigsten und prinzipiellen Fragen: 1. Die Oligarchen von der Macht zu entfernen und sie nicht zur Teilnahme an der Macht zuzulassen. 2. Die unmittelbare Gefahr des Zerfalls durch die Zähmung der regionalen „Fürsten“ zu beseitigen. 3. Die Verteidigungsfähigkeit des Landes wiederherzustellen, was am wichtigsten ist, die Stärkung des strategischen Atomschildes. 4. Die Beendigung bzw. Bremsung des Verfalls der sozialkommunalen Strukturen (Bildung, Medizin, Kultur, Kommunalwirtschaft).

Zum Ende der 1990er-Jahre haben die Oligarchen verstanden, dass man die Macht nicht in den Händen halten konnte. Man brauchte einen neuen Präsidenten statt des betrunkenen Jelzins – einen jungen energischen Menschen, der die Hoffnungen des Volkes teilweise erfüllt. Putin wurde als eine Art gesteuertes PR-Projekt konzipiert, das für die Aufrechterhaltung der Macht in der Hand der Oligarchen notwendig war. Es ist zwar verwunderlich, doch Putin war für die Oligarchen wie Gorbatschow für die Kommunisten, jedoch umgekehrt. Niemand dachte, dass Gorbatschow so blöd sein würde, dass er das Land zerstört. Niemand von den Oligarchen und der liberalen Klasse dachte Ende der 1990er-Jahre, dass Putin so klug sein würde, dass er den Zerfall des Landes stoppen würde. Putin ist ein ausgebildeter Geheimdienstler und kein Don Quichote, weshalb er in den ganzen Jahren sehr ausgeglichen und vorsichtig vorging. Er vermied radikale Handlungen, die das Land tatsächlich in einen Bürgerkonflikt führen bzw. Chancen für einen erfolgreichen von außen unterstützten Staatsstreich hätten können. Er traf Entscheidungen nur dann, wenn es unmöglich war, sie nicht zu treffen, weil eine überschnelle Entscheidung nicht besser und oft schlimmer ist, als eine späte Entscheidung. Er verstand, dass, bevor er das System umwandelt, die Frage beantwortet werden musste – wie sind die Erfolgschancen unter den jetzigen Bedingungen? Falls die Chancen nicht groß sind, müssen die Bedingungen geändert werden. Ich denke, dass sich Putin in den ganzen Jahren mit der Schaffung der Bedingungen beschäftigte, unter denen eine Änderung des politisch-wirtschaftlichen Systems möglich ist, das in den 1990er-Jahren als Folge des liberalwestlichen Projekts entstand, womit die Chancen Russlands auf das historische Überleben erhöht werden. Der Satz in diesem Spiel ist – das Überleben und die Aufrechterhaltung des Landes. Ich denke, dass Putin in diesen Jahren gemäß den vorhandenen Bedingungen der historischen Situation vorging.

Doch heute sind die Möglichkeiten des Systems des russischen Kompradoren-Kapitalismus und der lenkbaren Demokratie zur Lösung der Aufgabe des Überlebens und Aufrechterhaltung des Landes fast ausgeschöpft. Aus diesem System können nicht mehr Ressourcen für positive Veränderungen gepresst werden. Man muss das System ändern, das ist die aktuelle Bedingung der sich rasant entwickelnden Situation. Die Entscheidungen, die von Putin in Bezug auf die Krim und den von Protesten erfassten Donbass getroffen werden, gehen über den Rahmen der für ein rückständiges Rohstoffland zulässigen Aufgaben hinaus (aus der Sicht des Weltherrschers). Russland drückte mit seinen Handlungen die Nicht-Zustimmung zu dieser Rolle aus. Die Waldai-Rede ist eine politische Äußerung dieser Handlung, das bedeutet, dass wir jetzt den erklärten Ambitionen entsprechen und unser politisch-wirtschaftliches System umgestalten müssen.