Wir verbinden mit der angeblich näher rückenden „multipolaren Welt“ wirklich idealistische Hoffnungen. Die angeblich globale unipolare Welt ist jetzt Vergangenheit, die USA verabschieden sich, wir werden „unser Team“ (BRICS, Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit usw.) zusammenbasteln, die Interessen dort abstimmen, globalen „Einfluss“ ausüben, die regionalen „Spielregeln“ bestimmen und damit unseren Teil der globalen Verteilung der Vorteile der Weltwirtschaft bekommen.

In Bezug auf diese optimistischen Erwartungen stellen sich jedoch einige Fragen.

Wenn sich nicht „irgendwas“, sondern die ganze Weltstruktur, ihre ganze nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Ordnung verändert – worauf stützen sich dann die Hoffnungen, dass dieser Wandel möglich ist und ohne einen neuen Weltkrieg erfolgen kann? Wie kann ein Weltkrieg vermieden werden?

Was ist überhaupt mit „multipolarer“ Welt gemeint? (Um wie viele Pole handelt es sich übrigens überhaupt? Um zwei oder drei oder sogar vier?) Was ist die heutige Welt, die derzeit noch unipolar ist? Die zwei (drei, vier) Pole werden dasselbe tun müssen, was derzeit der einzige Pol (die USA) tut? Aber welchen Sinn hätte so ein Übergang? Und wenn die Qualität anders sein wird – dann geht es vielleicht nicht um die Polarität und nicht um die Zahl der Pole, sondern um diese neue Tätigkeit selbst? Aber dann sollte man über ihren Inhalt und nicht über ihre Form sprechen.

Wir hatten einst bereits in einer bipolaren Welt gelebt: Es gab das Lager der USA und das der Sowjetunion. Alle globalen Prozesse waren durch die Konfrontation beider Lager bedingt.  Die neuen „Pole“, deren Entstehung wir erwarten – bedeuten sie dasselbe? Wahrscheinlich ja und vielleicht sogar noch mehr. Oder sind unsere Hoffnungen auf eine gewisse „Harmonie“ zwischen den Einflusszentren, die gleichzeitig auch die Kraftzentren sein werden, unbegründet? Werden wir der Kern eines solchen Zentrums sein oder ein Satellit?

Die unipolare Welt, die von den USA verwaltet wird, bringt uns den Tod, der allerdings als Sicherheit und Wohlstand dargestellt wird. Es geht nicht um die Eindämmung der USA – das ist schlicht unmöglich: Sie werden weiter und weiter vorrücken, bis sie am Ende zusammenbrechen, egal ob mit einer großen oder einer kleinen Katastrophe. Deshalb muss diese Welt selbst reorganisiert werden, und das können wir tun. Das ist die Politik unseres Überlebens. Aber wie müssen dabei die Ziele der Reorganisation sein: mögliche, notwendige und ausreichende? Die allgemeine Rhetorik des Drangs zur „multipolaren Welt“ (oder ihrer „natürlichen Entstehung“) gibt auf diese Fragen keine Antworten.

Wladimir Lenin hatte einst Unrecht. Der Imperialismus wurde nicht das höchste Entwicklungsstadium des Kapitalismus. Das heißt, er wurde das zwar, aber nur in der damaligen historischen Phase – am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Imperien waren noch Staaten – trotz der ganzen Krise der Staatlichkeit, die als bürgerliche Revolutionen zutage kam und durch die Wissenschaft und den industriellen Aufschwung bedingt war. Imperien bestanden aus Territorien, über die sie ihre Macht zu verbreiten versuchten und für die sie de facto die politische Verantwortung trugen. Die Welt war zwischen verschiedenen Imperien verteilt. Ein Gleichgewicht zwischen ihnen bedeutete, dass Kriege unwahrscheinlich waren, und das war eben das Völkerrecht.

Aber im 20. Jahrhundert brach diese Ordnung zusammen. Die beiden Weltkriege waren im Grunde ein Krieg mit einer längeren Pause dazwischen. Der Auslöser war in beiden Fällen Deutschland. Zunächst wollte es seine Ansprüche bekräftigen, ein Imperium zu sein. Beim zweiten Mal aber wollten die Deutschen nicht nur ihren „Lebensraum“ verteidigen, sondern auch „die Herren Europas“ werden, und das war ihnen auch gelungen. Aber Deutschland kam zu spät. Die Deutschen dachten immer noch auf Lenins Art und glaubten, das Imperium bzw. das Reich wäre die höchste Staats- und Zivilisationsform. Sie begriffen nicht, dass eine neue Realität entstanden war, bei der im Staat als wichtigster Zivilisationsinstitution die innere und latente Krisenphase (bürgerliche Revolution, bei der die Bourgeoisie zwar die Macht erobert, aber keine politische Verantwortung übernimmt) endete und die offene und äußere Phase begann: Es entstand die jetzige Macht über die stärksten Staaten der Welt – die Megamacht. Diese hat prinzipiell keine staatliche Natur. Das ist nicht nur ein äußerer politischer Einfluss – das ist die Ausnutzung aller Instabilitätsfaktoren von Staaten, darunter der inneren Faktoren: der Klassen, politischen Parteien, Ideologien, säkularen Religionen, des vorzeitlichen ethnischen Bewusstseins, des Terrorismus. Der Begriff und die soziologische Analyse dieser Erscheinung in der russischen Gedankenschule gehören Alexander Sinowjew, dem ersten russischen Post-Marxisten.

Deutschland kam zu spät zur Welt der Megamacht. Der Nazismus war eine kraftlose Nachahmung der realen historischen Praxis des britischen kolonialen Rassismus. Die Deutschen verwechselten jedoch die Ursachen und die Folgen: Die Megamacht, das heißt die unüberwindbare Überlegenheit (darunter im technischen Sinne) ist ein Grund für die Verkündung der genetischen und kulturellen „Überlegenheit“, aber nicht umgekehrt. Der Rassismus ist nur eine Ideologie, aber keine geheime Kenntnis über die Macht. Obwohl der Preis, den die Juden für Hitlers Aufstieg an die Machtspitze bezahlen mussten, wahnsinnig hoch war, haben sie ihn nicht umsonst bezahlt: Der Hass zu den Juden war nichts als eine politische Technologie zwecks Beschleunigung der militärpolitischen Mobilmachung. Er hatte keinen historisch stabilen Solidaritätseffekt. In diesem Sinne wird auch der Hass zu den Russen dem ukrainischen Quasi-Staat nichts nützen.

Noch mehr als das: Der deutsche „Drang nach Osten“ wurde zu einer lenkbaren Waffe in den Händen der Briten, die gegen die Russen gerichtet war. Zum Schluss haben sie sogar gegen die von ihnen selbst geschaffene Waffe gekämpft, um die Spuren zu verwischen. Zum wirklichen Gewinner dieser Politik wurden aber die USA. Sie haben Deutschland als „Europas Herr“ abgelöst, und das Modell des Krieges gegen die mit ihren eigenen Händen geschaffene Waffe gehört jetzt zum Arsenal der Amerikaner. Die Ukrainer scheinen das nicht zu verstehen, genauso wie Saddam Hussein, Osama bin Laden und viele andere Personen das nicht verstanden, von denen ihre amerikanischen Beschützer ursprünglich sagten: „Er ist ja ein Hurensohn, aber immerhin unser Hurensohn“.

Natürlich wird das alles „für den Frieden“ getan. Karl Schmitt hatte vorhergesehen, dass der „Krieg um den Frieden“ (und nicht um konkrete Ziele der am Krieg beteiligten Seiten) der grausamste, unmenschlichste und amoralischste in der Geschichte sein wird. Aber 1945 wurde die Megamacht durch zwei Subjekte vertreten, und zwar nicht nur durch die USA, sondern auch durch die Sowjetunion. Die Weltherrschaft war zwischen zwei Polen verteilt, die aber keine Imperien mehr waren. Ein Imperium bleibt an seinen Grenzen stehen und führt Kriege, um diese Grenzen festzulegen. Für eine Megamacht aber beginnt der Krieg erst an dieser Stelle. Sie will nichts erobern oder schaffen. Der Kalte Krieg begann rein technisch als eine militärische Konfrontation unter den Bedingungen der nuklearen Abschreckung (wenn die Seiten einander, aber auch sich selbst garantiert vernichten würden) und verwandelte sich mit der Zeit in die Suche nach allen anderen möglichen Konfrontationsmöglichkeiten – von lokalen Konflikten und geheimer Gewaltanwendung bis zur massiven Einmischung in die Angelegenheiten voneinander durch Agenten. Aber ausgerechnet die Megamacht hat dem Kalten Krieg die Eigenschaft als Instrument der Megamacht verliehen. Der Kalte Krieg wurde nie unterbrochen, denn seine beiden Faktoren – die nukleare Abschreckung und die Zugehörigkeit zur Megamacht – sind erhalten geblieben. Den Kalten Krieg hat niemand gewonnen oder verloren. Denn wenn jemand ihn verloren hätte, dann wäre er völlig vernichtet worden. Aber wir Russen sind immer noch am Leben, obwohl es die Sowjetunion nicht mehr gibt.

Natürlich führt die Vernichtung dieser oder jener Staaten nicht zum Frieden. Ausgerechnet der Aufstieg der Megamacht bei gleichzeitiger Verkleinerung der Staaten hat zu Weltkriegen geführt. Die Megamacht trägt keine politische Verantwortung. Die von ihr geschaffene Weltordnung ist im Grunde das totale Chaos. Ihr größtes Problem besteht in der Notwendigkeit, ihren eigenen „Kernstaat“ aufrechtzuerhalten, denn auch ihn betrachtet die Megamacht als Mittel, das sie allmählich ausnutzt. Eben darauf lässt sich die Krise der US-amerikanischen Schuldenwirtschaft zurückführen. Die „Vorzeige“-Vernichtung solcher Staaten wie Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Ägypten und die Ukraine soll Europa und Russland Angst machen. Doch eigene Probleme werden dadurch nicht gelöst. Natürlich haben die Einwohner dieser Länder das Chaos, den Tod und das Blutvergießen „verdient“, weil sie „der Demokratie noch nicht gewachsen sind“. Aber das ist lediglich die Formel der Megamacht-Ideologie – des Rassismus, aber nicht die Begründung der Megamacht.

Wir haben unsere Megamacht selbst aufgegeben – um unseren „Kernstaat“ Russland aufrechtzuerhalten. Russland war zuvor von der Megamacht UdSSR total ausgebeutet worden. Ich denke, ich muss nicht beweisen, dass ausgerechnet Russland der Kern dieses Megamacht-Gebildes war, ohne den die Sowjetunion als politisches Projekt nicht hätte bestehen können. Das bedeutet aber, dass wir den Weg zur historischen Rehabilitation des Staates in der Welt eingeschlagen haben, der seine Megamacht verloren hatte. Wir müssen einen europäischen Staat in einem ganz anderen Sinne reproduzieren und entwickeln, als uns die Ideologen seiner Degradierung aufzuzwingen versuchen – im eigentlichen Sinne seine anhaltende Krise überwinden, die mit der Neuen Zeit zusammenfällt.

Wir müssen den Fall der Megamacht USA voranbringen, damit sie wieder ein Staat werden, der die Verantwortung innerhalb seiner Grenzen trägt (die sich dabei auch verändern können – genauso wie es bei uns der Fall war). Solange die USA als Megamacht bestehen, werden sie zu ihrem Ziel gehen, das die Vernichtung nicht nur Russlands, sondern letztendlich auch Europas und Chinas und der arabischen Welt vorsieht. Unsere Versuche, die USA zu überzeugen, haben für sie nicht die geringste Bedeutung.

Wir müssen uns mit der Wiederbelebung des Völkerrechts befassen, und zwar  auf Basis der Prinzipien der offenbaren Beschreibung und des offenbaren Verbots der Megamacht, der Anerkennung von Staaten als Grundform der Selbstorganisation von Menschengemeinschaften, die jedem einzelnen Menschen maximalen rechtlichen Schutz garantieren, auf Basis der Anerkennung der historischen Natur von konkreten Staaten auf rechtlicher Ebene und nicht aufgrund der rechtlichen Dominanz jeglicher „Standards“ und allgemeiner Normen als Mittel der Megamacht. Es muss ein neues internationales „Konzert“ entstehen, aber nicht nur ein europäisches, sondern ein viel umfassenderes.

Haben wir etwa Erfolgschancen dabei, oder ist die Megamacht eben Megamacht, und wir müssen uns ihr unterordnen? Für die Fügung entscheiden sich die Völker, die aus historischer Sicht keine eigene Philosophie und keine richtige (und nicht von Historikern ausgedachte) Geschichte, wie auch kein Staatsdenken haben, das nicht nur für die Machthaber, sondern für das ganze Volk typisch wäre. Das trifft auf uns nicht zu. Unsere Stärke besteht in unseren Unterschieden und nicht darin, dass wir uns an die „Standards“ der Megamacht anpassen. Unsere Unterschiede sind keine Morphologie der „Russen“, kein legendärer „Charakter“, sondern unser historischer Reproduktions- und Entwicklungsweg. Das wichtigste an ihm ist die Fähigkeit, eine Krise zu überleben und sich dabei zu verändern. Diese diversen Selbstbestimmungsprogramme haben wir. In den USA ist die Zahl solcher Programme viel geringer – um das festzustellen, muss man ja nur die Ereignisse vergleichen, die wir und sie erlebt haben. 

Wir haben unser Programm des 20. Jahrhunderts gelöst und die Selbstherrschaft zugunsten der im Grundgesetz verankerten Wahlmonarchie aufgegeben. Ausgerechnet mit diesem Thema des Staatsaufbaus begann für uns das vorige Jahrhundert. Russland veränderte sich immer – öfter, länger und radikaler als die USA. Wir dürfen nicht den größten naturwissenschaftlichen Fehler der Gesellschaftskunde wiederholen: unsere Systeme ohne Berücksichtigung des Zeit- und Evolutionsfaktors betrachten, als würden sie immer und ewig bestehen. Wir müssen daran denken, dass sich irgendwann alles verändert.

Die Ideologie – egal ob sie kommunistisch, neoliberal oder pseudodemokratisch ist – lenkt immer vom realen Zeitpunkt ab. Nicht unbedingt in die weite Zukunft. Aber unbedingt außerhalb der Realität.

Die sowjetologischen Ressourcen der USA sind am Ende. Die amerikanischen Kreml-Experten verstehen den Kreml nicht, genauso wie die amerikanischen Sowjetologen die russische Bevölkerung  nicht verstehen.

Die Russen sind keine Slawen. Die Russen sind keine Ethnie. Die Russen sind eine historisch entstandene politische multiethnische Gemeinschaft – wie beispielsweise die Schweizer, aber viel größer. Die slawische Wahrnehmung des Russen ist aus historischer Sicht der Weg zurück – im Grunde die freiwillige Verwandlung in ein Relikt. Möglicherweise wollen die Ukrainer Slawen bleiben, aber das wird sie nur noch weiter ins Chaos und in die Sklaverei führen. Deshalb ist es sinnlos, auf die Brüderschaft zu setzen, auf das gemeinsame Blut und die gemeinsame Kultur. (Kain und Abel hat das jedenfalls nicht geholfen.) Man muss ihnen helfen, sich mit politischen Fragen auseinanderzusetzen.

Wir sind nicht gegen die Demokratie als Regierungsform. Wir sind aber gegen die Pseudodemokratie als Mittel zur Zerstörung von Staaten.

Und so weiter.

Das ist alles die neue Welt. Sie ist gefährlich, unkomfortabel, dafür aber real und aussichtsreich. Meines Erachtens ist es falsch, sie als „multipolar“ zu bezeichnen.