Vor einiger Zeit habe ich mehrere Artikel zum Thema „Metaphysik der russisch-russischen Zivilisation“ veröffentlicht. Das Schlüsselwort ist dabei „Metaphysik“. Wir verstehen diese Kategorie so, wie sie einst der deutsche Philosoph Martin Heidegger verstand: als endliches Fragen. Aber wo es Fragen gibt, muss es auch Antworten geben. Und wenn die Metaphysik aus unserer Sicht das „endliche Fragen“ ist, dann ist die Philosophie idealerweise die Gesamtheit der „endlichen Antworten“.

In der modernen Philosophie, die anders als die postkantische, postmarxistische oder postpositivistische ist, gibt es immer mehr Fragen und immer weniger Antworten. Der Grund dafür steckt offensichtlich darin, dass die Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Art philosophierende Metaphysik mutiert ist, in der das Fragen und die Vielfalt der Antworten darauf oder sogar der Interpretationen normal ist.

Der erste, der den Begriff „Norm“ kritisch analysiert hat und sich dabei auf die Gesetze der formellen Logik stützte, war der russische Philosoph Alexander Sinowjew. Zudem versuchte er, die moderne Philosophie oder zumindest die postsowjetische sozialpolitische Philosophie aus ihrem paranormalen und metaphysischen Zustand zu führen, indem er den Begriff „endliches Fragen“ weitestgehend konkretisierte und zuspitzte, so dass die Philosophie wieder öffentlich wurde und ihre große gesellschaftliche Bedeutung zurückeroberte. Deshalb können die Vertreter der modernen russischen gesellschaftspolitischen Ideen in Übereinstimmung mit der von Sinowjew neubestätigten Tradition nicht mehr die Metaphysik und Scholastik missbrauchen und müssen nach diesen oder jenen Antworten auf immer neue Fragen in Bezug auf die immer unklarere Gegenwart suchen.

Im Prinzip dachte und handelte Alexander Sinowjew als überzeugter Postmarxist in Übereinstimmung mit der äußerst wichtigen These von Karl Marx aus dessen bekannten „Thesen über Feuerbach“: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

Dieses so lange Vorwort – von Heidegger bis Sinowjew – brauchten wir, um die folgende These zu formulieren: Der Übergang von der Erklärung der Welt zum konkreten Handeln zur Verbesserung der Welt ist im Grunde der Übergang von der Wissenschaft zur Ideologie und dann von der Ideologie zu einer prinzipiell neuen gesellschaftspolitischen Praxis.

Eine Art Brücke zwischen humanitären Wissenschaften und Ideologien war immer die Methodologie der Erkenntnis. Wenn die Gnoseologie die Erkenntnis nicht nur von Gesetzen des Aufbaus der Welt, sondern von Gesetzen der Weltanschauung ist – also davon, was im Bewusstsein der Menschheit im Allgemeinen, wie auch im Bewusstsein von Millionen einzelner Menschen vorging und vorgeht —, dann besteht die Methodologie nicht nur aus Gesetzen und Methoden der Erkenntnis, die von einer Wissenschaft wie Logik entwickelt werden, sondern auch aus den Arten der Weltanschauung und den originellen Interpretationen der in der Welt vorgehenden Prozesse.

In den modernen Gesellschaftswissenschaften gibt es nach Auffassung des US-amerikanischen Soziologen George Ritzer „fünf wichtigste methodologische Paradigmen“ (in Wahrheit noch mehr), d.h. Standpunkte, Blickwinkel und Erläuterungsmodelle, die sich auf verschiedene Ideologien stützen. Jedem Paradigma liegt diese oder jene Vorstellung des jeweiligen Autors von der objektiven Realität zugrunde, und in diesem Sinne ist jedes Paradigma ein Raum des Subjektiven, und mit Subjektivität beginnt bekanntlich jede Konzeption. Und da es sehr viele methodologische Paradigmen gibt, scheint uns die subjektive Einschätzung der Gründe für die Auswahl eines einzigen Paradigmas für die Gestaltung der neuen russischen Ideologie kaum effizient zu sein. Aber angesichts dessen, dass die Methodologie nicht nur die Bestimmtheit der Mittel der Erkenntnis vorsieht, sondern vor allem die Klarheit der Ziele jeglicher intellektueller Tätigkeit, halten wir die ZIELBESTIMMUNG für das Schlüsselkriterium der Einschätzung der Auswahl dieses oder jenes Erkenntnisparadigmas, dieser oder jener Erklärung der Welt durch den Autor. Und dabei sind wir keine Einzelgänger: Leo Gumiljow hatte in seinem Buch „Ethnogenese und Biosphäre der Erde“ die Notwendigkeit eines gestellten Philosophems in jeglicher Interpretation betont, denn sonst würde ihr Ausbleiben „das Prinzip der induktiven Erforschung verletzen“. Und der Gründer der „verstehenden Soziologie“, Max Weber, verwies einst darauf, dass die Erkenntnis im Grunde „der Prozess der Nachvollziehung einer sozialen Handlung durch den SINN ist, den das Subjekt mit seiner  Handlung verfolgt.“

Damit ist die Entstehung einer Ideologie im Grunde ein entgegengesetzter Prozess im Vergleich zur Entstehung einer Erkenntnis von der Feststellung einer gewissen Tatsache zu ihrer Interpretation und dann zur Nachvollziehung ihres Sinnes: Ein Ideologe „steigt auf“ zur Nachvollziehung des Inhalts und Sinns von diesen oder jenen Prozessen (vom Konkreten zum Abstrakten) und „lässt“ sich dann zur Errichtung von neuen Interpretationen auf Basis der politischen Ziele „herab“ (vom Abstrakten zum Konkreten), die er verfolgt.

Trotz seiner methodologischen Stärke wurde der Marxismus leider zur Quelle einer raffinierten Demagogie in der Theorie und des Bolschewismus (sprich des administrativen Quasi-Sozialismus) in der Praxis. Großenteils lässt sich das durch die Erfindung der Formations-Herangehensweise zur Analyse von in der Gesellschaft vorgehenden Prozessen erklären – und diese Herangehensweise (in der Interpretation von Marx, von Arnold Toynbee, Walt Rostow, Daniel Bell usw.), die die Popularität der so genannten Formations-Paradigmen für ideologische Konzepte bedingte, die den historischen Prozess als konsequenten Wechsel von sozialwirtschaftlichen Ordnungen betrachten, hat die humanitären Wissenschaften des Ostens und des Westens maximal dogmatisiert.

Man muss sagen, dass die Formationsdoktrinen immer noch zu den populärsten in der internationalen gesellschaftspolitischen Theorie der Konstrukte zählen, allerdings nicht weil sie die Welt am besten erklären. Bei der Beschreibung von globalen Prozessen als Wechsel von diesen oder jenen „Formationen“ entsteht der Eindruck, dass man die Evolutionsgesetze der menschlichen Gesellschaft versteht – und dadurch die Illusion, dass man die Zukunft vorhersehen kann, was das Bewusstsein der Volksmassen sehr aufregt. Die Formations-Paradigmen lassen die Forscher auf qualitative Parameter der historischen Prozesse achten: auf den Entwicklungsstand der Technologien und verschiedener Institute, auf die Typen der Gesellschaftsbeziehungen, auf den Charakter der politischen, der Kommunikationssysteme usw., wobei die ZEIT – die historischen „Wachstumsstadien“ und „Entwicklungszyklen“ – verabsolutiert werden. Dementsprechend sieht eine weitere Art von kognitiv-ideologischen Paradigmen die Verabsolutierung des RAUMES vor.

Im Kontext der räumlichen bzw. geografischen Parameter der Subjektivität der modernen Politik ist die bekannte Klassifikation des amerikanischen Politologen Samuel Huntington erwähnenswert, der bei der Erläuterung der Vorteile der Zivilisationsmethodologie vier traditionelle Paradigmen der Beschreibung der Geschehnisse bestimmte: Globale Prozesse betrachtete er entweder im Kontext der Globalisierung oder als Ergebnis des Kampfes von Supermächten oder als Prozess der Konkurrenz zwischen einzelnen Ländern und Völkern oder als „weltweite Anarchie“. Das neue, nämlich das Zivilisationsparadigma bezeichnet Huntington nicht nur als das fünfte, sondern als das einzige zum konkreten Zeitpunkt angemessene wissenschaftliche Paradigma, das zudem effizienter als alle anderen ist.

Nach seiner Auffassung vermeiden wir viele Schwierigkeiten, wenn wir „die Welt im Rahmen von sieben oder acht (lokalen) Zivilisationen betrachten“. Bei diesem Modell wird die Realität nicht zugunsten der Theoretisierung geopfert, was bei den Paradigmen der uni- und bipolaren Welt der Fall ist; gleichzeitig aber wird auch die Abstrahierung nicht zugunsten der Realität geopfert, wie beim statistischen und chaotischen Paradigma der Fall ist. Das ermöglicht ein ziemlich einfaches und klares System des Begreifens der Welt und der Bestimmung von dem, was wichtig bzw. unwichtig ist bei zahlreichen Konflikten, beim Voraussehen der künftigen Entwicklung und gibt Orientierungspunkte für Politiker“, schrieb Huntington in seinem Buch „Kampf der Kulturen“.

Wie auch immer  — im wichtigsten Punkt hatte der amerikanische Politologe Recht: Ausgerechnet das Zivilisationsparadigma wird zum „bequemsten“ Instrument für das Bemerken und Begreifen der wesentlichen Phänomene und für die angemessene Bestimmung von geopolitischen und anderen Prioritäten im 21. Jahrhundert, wobei das Wichtige vom Nebenwichtigen getrennt wird. (Als Beispiel passt die Trennung  des Problems des zivilisations- und wertebezogenen Widerstandes der Russischen Welt gegen einen neuen Anwärter auf die globale Herrschaft von dem tierischen Drang der westukrainischen Anhänger Stepan Banderas, das von dem nazistischen Bündnis eroberte Territorium mit Blut zu markieren.) Und ausgerechnet deswegen ist die Zivilisationstheorie und nicht die liberale Idee (wie Francis Fukuyama, Immanuel Wallerstein und viele andere Adepten dieser Idee behaupten) derzeit das einzige Konzept, das nicht nur mit der marxistischen Theorie vergleichbar, sondern durchaus in der Lage ist, sie als neue sozial-anthroposophische Theorie zu ersetzen. Unseres Erachtens wird diese Idee für die Menschheit zu einer starken kognitiven und weltanschaulichen Stütze im Kampf gegen die immer wahrscheinlichere humanitäre Katastrophe.