In meinem vorhergehenden Artikel habe ich mich mit dem Thema Ausartung auseinandergesetzt. Diesen Begriff betrachtete ich am Beispiel der Natur. Ich versuchte, deutlich zu machen, dass die Darwin-Theorie in erster Linie eine ideologische Lehre war, die die wirklichen Mechanismen der biologischen Evolution nur sehr unpräzise widerspiegelt und sogar entstellt. Ich verwies darauf, dass die Konkurrenz in der wilden Natur zum Untergang einiger Arten von Lebewesen führt und dass die Biosphäre eher als einheitliches System betrachtet werden sollte und nicht als eine Großzahl von Tier- bzw. Pflanzenarten und einzelnen Tieren bzw. Pflanzen, die gegeneinander kämpfen. Das Verhalten jedes einzelnen Lebewesens ist in erster Linie durch das Ziel der Reproduktion der jeweiligen Population, Art und der ganzen Biosphäre bedingt. Jegliche Abweichung von der Aufgabe der Reproduktion eines lebensfähigen Ganzen ist im Grunde der Sinn der Ausartung. Der Egoismus gehört nicht dem biologischen Erbe des Menschen an. In diesem Artikel werde ich die These verteidigen, dass sich die soziale Welt nach ihrer Struktur von der Welt der wilden Natur kardinal unterscheidet. Ihre Lebensfähigkeit stützt sich auf andere Mechanismen. Wir müssen sie kennen, um den Untergang von sozialen Systemen zu begreifen.

Der Mensch ist nicht die Krönung der Evolution

Um die Spezifik des menschlichen Zusammenlebens und ihren radikalen Unterschied zu Tierrudeln zu begreifen, muss man verstehen, dass der Mensch kein Produkt eines Evolutionsprozesses ist. Es ist unwichtig, wie wir uns diesen Evolutionsprozess vorstellen. Egal, ob nach der Darwin-Theorie, der zufolge für diesen Prozess zufällige Veränderungen und adaptive Aneignungen typisch sind, oder nach der künftigen „ontogenetischen“ Theorie, die den Evolutionsprozess als Entfaltung eines systematischen Ganzen beschreiben muss, oder nach irgendeiner anderen theoretischen Konstruktion.

Ich bin der Meinung, dass der Mensch im Laufe nicht der Evolution, sondern eines ganz anderen Prozesses entstanden ist.  Die Evolution hat lediglich das Material dafür geschaffen, und damit war ihre Rolle beendet: Es war ein gewisser „Vormensch“ entstanden. Wir können glauben, dass dieser „Vormensch“ eben das Zielprodukt der Evolution war. Deshalb kann keine Evolutionstheorie – selbst eine solche, die sich gegen die Darwin-Lehre durchgesetzt hat – die Entstehung des Menschen erklären.

Vom Rudel zur Gemeinschaft

Der Mensch stammt natürlich nicht vom Affen ab. Es ist allgemein bekannt, dass Menschen als biologische Art (ich nenne sie einmal Vormenschen) viel früher entstanden waren als sie gelernt haben, Werkzeug zu nutzen, zu sprechen und sich im Kollektiv zu benehmen. Die biologische Basis für die Entstehung des Menschen (aber nicht der Mensch selbst!) entstand viel, viel früher (egal ob 400 000 oder zwei Millionen Jahre früher – verschiedene Historiker können sich nicht über den genauen Zeitpunkt einigen) als der Homo sapiens, wie wir ihn kennen. Und diese ganze Zeit lebten diese Vormenschen im Grunde als Tiere. Der Prozess, in dessen Laufe der Mensch entstanden ist, bestand in der Verwandlung des Rudels in die Gemeinde. Das biologische Material blieb dabei unverändert. Das Geheimnis der Entstehung des Menschen verbirgt sich gerade in diesem Übergang. Denn gerade dabei ist offenbar das „Licht der Vernunft“ aufgegangen, wie Philosophen das formulieren. Ich würde aber noch konkreter sagen, wie das Piaget einst gesagt hat: Die Menschen in einer Gemeinde verstehen allmählich das eigene Verhalten.

Das ist nicht die richtige Stelle, um die Modelle zu beschreiben, nach denen das passiert sein könnte. Ich sage einmal nur, dass der Sinn dieses Übergangs in der Entwicklung von Mechanismen zur Widerspiegelung auf Basis der bereits bestehenden biologischen Möglichkeiten besteht. Widerspiegelung bei Lebewesen ist jedoch kein „Spiegel“, der alles ohne Ausnahmen zeigt. Widerspiegelung ist ein systematisches Element des Verhaltens. Ein Tier widerspiegelt nicht die ganze Außenwelt, sondern nur das, was für sein Verhalten, für sein Funktionieren nötig ist. Die Widerspiegelung ist selektiv und fokussiert.

Möglicherweise ist der Übergang vom Vormenschen zum Menschen damit verbunden, dass sich der Vormensch von wichtigen Details der Außenwelt auf gewisse Momente seines eigenen Verhaltens und das des Kollektivs umschaltet, dem er angehört. Zum Beispiel auf das Tonsignal, das er selbst gibt, oder auf die Gesten, die er in gewissen Situationen macht, oder auf gewisse Gegenhandlungen seiner Stammesgenossen nach seinen Signalen. Für seine Stammesgenossen haben seine Signale oder Gesten in gewissen Situationen eine ganz besondere Bedeutung und verlangen gewisse kollektive Handlungen. In dem Moment, als der Vormensch die Verbundenheit verschiedener Töne oder Gesten, die er bis dahin als zufällig wahrgenommen hatte, mit einem effektiven kollektiven Verhalten begriff, entstand die Möglichkeit für den Übergang zu bewussten, signalisierenden Handlungen. Diese oder jene Töne bzw. Gesten wurden zu einem unentbehrlichen Element der Organisation von komplizierten kollektiven Handlungen. Bei den Vormenschen entsteht die Fähigkeit zur bewussten Verwendung dieser oder jener Signale für die Bezeichnung verschiedener Situationen oder für die Auslösung von gewissen kollektiven Handlungen. Solche Signale sind keine reflexive Reaktion auf gewisse Reize aus der Außenwelt mehr: Sie bekommen einen ganz neuen Sinn. Mit diesen oder jenen Signalen erzählen die Menschen über die Situation, in der sie sich befinden, lösen kollektive Handlungen aus, machen ihre Stammesbrüder auf wichtige Details der aktuellen Situation aufmerksam.

Dank der Widerspiegelung, die auf das Verhalten (sprich Reflexionen) ausgerichtet ist, verwandelt sich ein Signal in ein Zeichen, eine Gruppe von Signalen in eine Sprache, ein Vormensch in einen Menschen und ein Rudel in eine Gemeinschaft. Das Begreifen des Verhaltens ist offenbar unzertrennlich an die Geburt der Sprache gebunden. Meines Erachtens sind beide Behauptungen richtig: Sowohl dass das Begreifen des Verhaltens durch die Sprache erfolgt als auch dass die Sprache durch das Begreifen des Verhaltens entsteht.

Die Hauptsache ist dabei, dass das Verhalten – jetzt schon einer ganzen Gemeinschaft – nicht mehr die Erfüllung des genetischen Programms einer ganzen Tierart ist. Das Erbgut ist nicht mehr die einzige Quelle des Verhaltens. Die Gemeinschaft beginnt, ihr neues Verhalten selbst zu kreieren. Noch mehr als das: Dank der sprachlichen Füllung ihres Verhaltens bekommt sie viel größere Möglichkeiten für seine Übergabe an die nächsten Generationen. Urtümliche Rituale waren bereits mit Zeichen gefüllte Handlungen, die kollektive Erfahrungen verkörperten. Das Verhalten, das von einer menschlichen Gemeinschaft und nicht vom Evolutionsprozess kreiert wurde und nicht genetisch, sondern durch kulturelle Mechanismen reproduziert wird, hat bereits eine andere „Natur“ – es wird zur Tätigkeit. Der Mensch wird zum Menschen nicht von sich und nicht wegen seiner biologischen Natur, sondern nur weil er in das Leben der menschlichen Gemeinschaft involviert ist.

Mensch ohne Substanz

Die Bedeutung des Begreifens des Verhaltens wird üblicherweise unterschätzt. Das Begreifen eines jeden Verhaltensprogramms führt dazu, dass es an Automatismus verliert. Das gilt sogar für Empfindungen und Wahrnehmungen. Die Verbalisierung von Empfindungen verändert sie. Die „reine“ Wahrnehmung und die Wahrnehmung im sprachlichen Feld sind zwei verschiedene Dinge. Reflexiv (mit Zeichen) organisierte Empfindungen und Wahrnehmungen werden sekundär wieder automatisiert, aber wesentlich anders. Der Mensch ist kein natürliches Wesen im ursprünglichen Sinne mehr. Er ist zu einem technisch-natürlichen Wesen geworden, in dem die „Natur“ nur eine Nebenbedeutung hat und der „Technik“ untergeordnet ist, dabei allerdings plastisch und transformierbar ist. Kein einziger Instinkt, kein einziger physiologischer Mechanismus ist für diesen Menschen „Gesetz“. Die Verwaltung über jeden biologischen Prozess kann von seinem Verstand abgefangen werden. Der Mensch kann seine Natur willkürlich verändern. Die Substanz eines jeden Tieres besteht in seinem speziellen Verhaltensprogramm. Der Körper des Tieres ist nur der materielle Ausdruck dieses Programms. Der Mensch hat aber keine solche Substanz mehr. Er muss sie während seiner Lebenszeit finden, seinen Platz finden, den Inhalt und die Form seiner Beteiligung am Gesellschaftsleben bestimmen. Marx schrieb vom Problem der Entfremdung des Menschen. Er verstand aber die ursprüngliche existenzielle Natur dieses Problems nicht.

Die Medizin hat diesen Moment übrigens verpasst. Sie behandelt den Menschen bestenfalls wie ein Tier – in den Fällen, in denen es um die Versuche zur Wiederherstellung seiner „Selbstregulierung“ geht. Viel öfter aber behandelt sie den Menschen wie eine kaputtgegangene Maschine – wenn sie ihn chirurgisch „reparieren“ oder mit chemischen Mitteln (Arzneien) bearbeiten will.  Die „menschliche Medizin“ sollte sich eigentlich mit der Organisation des Begreifens von diesen oder jenen Prozessen befassen, an denen der Mensch beteiligt ist, darunter von körperlichen (aber nicht nur von ihnen) Prozessen, und gerade dadurch den Gesundheitszustand des Menschen verbessern. Erst recht unzulässig sind Versuche zur Biologisierung des Menschen in sozialpolitischen Kontexten. Wer von der Notwendigkeit zur Verbesserung der menschlichen Natur spricht, lügt, denn der Mensch hat keine Natur. Diese These kann nur für eines verwendet werden, und zwar für die Begründung der Organisation von Konzentrationslagern, der „Chipisierung” und der Robotisierung des Menschen.

Situation des Menschen

Der Vormensch gehörte noch der Natur, und seine Existenz war durch biosphärische Mechanismen garantiert, dadurch, dass für ihn, wie auch für alle anderen Lebewesen, ein ganz bestimmtes Verhalten vorprogrammiert war. Jetzt aber ist sein Verhalten bzw. seine Tätigkeit nicht mehr auf eine natürliche Weise mit den Prozessen der Reproduktion von Einheiten eines höheren Ranges abgestimmt.

Die Entstehung des Menschen auf Basis des Vormenschen bedeutet, dass seine Existenz grundsätzlich ein Problem wird. Sein Problem. Die Tätigkeit gehört nicht der Natur. Die Tätigkeit der Menschen kann von den Reproduktionsaufgaben abweichen, und zwar ziemlich stark. Noch mehr als das: Jetzt ist die Natur faktisch ein Element der menschlichen Tätigkeit, und ihre Reproduktion gehört jetzt auch in den Zuständigkeitsbereich der Menschheit. Deshalb kann man behaupten, dass der Mensch jetzt nicht der Natur gehört, sondern einer Einheit einer absolut anderen Größe. Wir können auf den von Wernadski verwendeten Begriff zurückgreifen und diese Einheit als Noosphäre bezeichnen. Kritisch wichtig wird jetzt, inwieweit die Menschen dieses soziale und auf Tätigkeit bezogene Ganze mit all dem kennen, was dazugehört: der Natur, den Technologien, dem Menschen selbst – und inwieweit sie all das in den Griff bekommen können, indem sie die Prozesse des normalen Funktionierens, der normalen Reproduktion und Entwicklung regeln. Die Instinkte werden vom Begreifen abgelöst: Was ist zu tun, um die Lebensfähigkeit der Noosphäre aufrechtzuerhalten?

Jetzt können und müssen die Menschen die Art und Weise ihrer Existenz selbst bestimmen: die Koexistenz-Regeln, die Motivation, die Handlungswege. Die Linien der sozialen Evolution sind im Grunde die Praxis von diesen oder jenen Arten des kollektiven und individuellen Lebens.

Jedes Sozium hat seine eigenen Varianten zur Lösung des Existenzproblems. Die Lösung ist immer vielschichtig: Da findet sich Platz für verschiedene Motivationsarten der Menschen, die alltäglichen Regeln und Sitten, die Organisation der Wirtschaft, verschiedene Institutionen und Gesetze. Das alles hat allerdings ein Basiselement: Das Begreifen der eigenen Situation. Jede Lebensweise — selbst wenn sie auf den ersten Blick ganz traditionell ist — und alle natürlichen Lebensmotive haben immer ihre Quellen: So hat irgendjemand einst die Situation auf eine gewisse Weise interpretiert und diese Interpretation allen anderen Menschen vermittelt.

In den abrahamitischen Religionen ist dieser Moment reflektiert: Der Mensch ist jetzt Mitschöpfer und Vertreter Gottes auf der Erde. Sein Überleben hängt voll und ganz davon ab, ob und wie er diese Position des Kennens und der Verantwortung aufrechterhalten kann.

Zur Ausartung

Alexander Sinowjew hat in seinen Büchern das „Gesetz des egoistischen Kalküls“ ausführlich beschrieben: „Laut diesem Gesetz nimmt sich jedes normale und aktive Mitglied der Gesellschaft so viel Gutes vom Leben, wie viel es dank seines sozialen Status nehmen kann, ohne dabei bestraft zu werden.“ Sinowjew hatte zweifelsohne Recht, dass egoistisches Kalkül in vielen Hinsichten das Verhalten und die Tätigkeit der Menschen in den realen sozialen Systemen bestimmt, die er erforschte. Sein Fehler bestand allerdings darin, dass er vermutete, dieser Motivationskomplex wäre mit natürlichen Mitteln unüberwindbar, und seine Kraft überschätzte. Gleichzeitig gab Sinowjew allerdings zu, von einem neuen Menschen zu träumen, der nicht berechnend, sondern lebendig und herzlich wäre. Und schrieb von der Bedeutung des Faktors des Begreifens.

Die Lebensfähigkeit eines Systems, seine Fähigkeit, nicht unterzugehen, hängt davon ab, wie viel jeder Mensch über das Ganze weiß und wie stark seine Voreinstellung ist, dieses Ganze aufrechtzuerhalten. Davon, ob für jeden Menschen seine Verbindung mit dem Ganzen: mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – offensichtlich ist. Egoismus ist kein Naturgesetz. Egoismus hat dieselben Wurzeln wie auch das Gewissen: Diese Wurzeln stecken in seiner Fähigkeit zur Reflexion. Aber hier ist die Reflexion nicht auf die Bestimmung von sich selbst bei der Reproduktion des Ganzen ausgerichtet, sondern auf seine willkürliche Nutzung.

Von der Ausartung gefährdet sind Sinowjew zufolge alle Menschen, die sich mit dem Ganzen nicht auseinandersetzen und ihre Teilnahme an dessen Reproduktion nicht bestimmen wollen; alle Menschen, die im Grunde auf die menschliche Existenzweise, auf die Suche nach ihrem Platz, nach ihrer einmaligen Substanz verzichten. In den Heiligen Büchern ist das auch klar formuliert: Jeder wird sich für das verantworten müssen, was er getan und nicht getan hat.

Erwähnenswert ist auch das Phänomen der systematischen Degeneration. In erster Linie handelt es sich dann darum, wenn die Verwaltung in einem sozialen System nicht im Interesse ihrer Reproduktion erfolgt, sondern im Interesse eines einzelnen Organs, einer sozialen Schicht oder einer konkreten Gruppe von Menschen. Das führt zu einer Schwächung der Lebensfähigkeit des jeweiligen Systems. Das Schlimmste passiert, wenn die Menschen massenweise die Verbindung mit dem Ganzen verlieren und hoffnungslose Egoisten werden, besonders wenn alle Freiheit fordern und überzeugt sind, dass die ganze Welt für ihre Selbsterfüllung und für die Erfüllung ihrer Träume existiert. Aber darüber reden wir beim nächsten Mal. Fortsetzung folgt.