Heutzutage ist der Konsum nicht nur eine Wirtschaftskategorie, sondern umfasst auch Gebiete wie Kultur, Politik und die ganze Gesellschaft. Den ideologischen (und sogar den geopolitischen) Kontext des Konsums veranschaulicht der Sanktionskrieg zwischen dem Westen und Russland. Der Konsum ist und bleibt eine Ideologie und eine der Komponenten von dem, was Alexander Sinowjew einst als „Westentum“ bezeichnet hat.

Ideologische Funktionen des Konsums im 20. Jahrhundert

Obwohl die vom Westen und von Russland verhängten gegenseitigen Sanktionen nur den Wirtschaftsbereich betreffen, wurden sie in Russland von dem liberalen Teil der Gesellschaft vor allem aus ideologischer Sicht wahrgenommen. Die wirtschaftliche Analyse der Notwendigkeit und der Folgen der Gegensanktionen wurde von der „kreativen Klasse“ und schaffenden „Intelligenzija“ total vulgarisiert, weil sie den spanischen Schinken (Jamon) und den Parmesankäse in den Supermärkten vermissen.

Soziale Netzwerke und einige Medien spekulierten mit einem angeblich bevorstehenden „Hunger“ und behaupteten, dass jegliche Einschränkung des Lebensmittelimports aus dem Westen und dessen Ersetzen durch andere Produkte grundsätzlich unmöglich sei. In Wahrheit aber ist diese Situation die Folge von objektiven sozialpolitischen Prozessen.

Der Aufschwung des Konsums fiel in die Epoche der ideologischen Konfrontation der UdSSR und des Westens. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte der Konsum nicht nur die primäre Aufgabe zur Gewinnerwirtschaftung, sondern – mit der Entwicklung von humanitären und Kommunikationstechnologien – auch eine wichtige ideologische Rolle, indem er im Grunde zu einer Art „Schaufenster“ des westlichen Gesellschaftssystems wurde.

Die Ideologie des Konsums ist an sich primitiv, aber sie etablierte sich als universelles Instrument zur Globalisierung oder, wie Sinowjew zu sagen pflegte, zur „Verwestlichung“. Dadurch konnte er seine ideologischen Funktionen auch nach dem Zerfall der Sowjetunion ausüben, als die sichtbaren Widersprüche zwischen beiden Gesellschaftssystemen ihre Aktualität verloren hatten.

Naomi Klein schreibt: „…als der Kalte Krieg zu Ende war und dieser ideologische Hintergrund sich auflöste, war der große Zweck, der das Shoppen begleitet hatte, plötzlich weg. Ohne Ideologie ist das Einkaufen nichts mehr als das Einkaufen geblieben. (…) Wenn amerikanische Politiker ihre Mitbürger auffordern, gegen den Terrorismus durch Shoppen zu kämpfen, geht es um etwas mehr als nur um die Unterstützung der angeschlagenen Wirtschaft. Es geht wieder um das Einkleiden des Alltäglichen in die Hülle des Mythischen…“

Aber was in den USA manchmal wie Übertreibung und Karikatur aussieht, wird in Russland mit dummer Begeisterung wahrgenommen – obwohl der Konsum immer mit einer fundamentalen und schmerzhaften Umgestaltung der gesamten sozialen  Ordnung verbunden war.

Konsumdialektik im 21. Jahrhundert

Der Konsum ist und bleibt der absolute Wert der modernen Gesellschaft und hat alle anderen Werte aus dem sozialen Leben quasi verdrängt. Heutzutage ist der Konsum das Hauptkriterium des Wohlstands und der Zivilisiertheit eines Staates – so wird er von der Gesellschaft wahrgenommen.

Das Phänomen des Konsums wird ohne jegliche Dialektik betrachtet und aufgezwungen. Die Dialektik ist der größte Feind der Konsumideologie.

Für die Neoliberalen hat der Konsum (nach der Logik der ideologischen Konfrontation während des Kalten Krieges) keine negative Seite. Aus dieser Sicht kann der Konsum nur einer allgemeinen Gestalt von totalitären Regimes gegenübergestellt werden, und jeglicher Rückgang des Konsums wird als unvermeidliche Rückkehr in die umstrittenen Sowjetzeiten betrachtet.

Die ideologische Gestalt des Konsums schließt seine Rückseite aus, wobei diese mit Aspekten wie Enthumanisierung, Disqualifikation der Arbeitskräfte, deren Ausbeutung und eine soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die Vortäuschung ihrer wichtigsten Bedürfnisse an zugänglichen Bildungsmöglichkeiten, an günstiger medizinischer Versorgung, an günstigen Wohnungen und an der intellektuellen Entwicklung verbunden ist. Der Konsum vergeudet enorm viele intellektuelle und humane Ressourcen, die sonst für den sozialen, technologischen und humanitären Fortschritt verwendet werden könnten.

In einer Konsumgesellschaft herrscht eine enorm primitive Vorstellung vom sozialen System. Nicht umsonst wird die ganze Diskussion über den Konsum auf einem kleinlichen, philisterhaften Niveau geführt, wobei die allgemeine Situation außerhalb des Kontextes bleibt.

Das eigene Land gegen das kleinliche Konsumglück einzutauschen, ist für die Ideologie des „Westentums“ ganz natürlich. Denn das Vorhandensein von Fastfood wird dabei ganz aufrichtig mit der Zugehörigkeit zur „zivilisierten Welt“ gleichgesetzt.

Das Paradox des Konsums in Russland besteht darin, dass zu konsumierende Objekte, obwohl sie täglich zugänglich sind,  nach wie vor begehrt sind und als unumstrittener Wert gelten. Damit wird der Konsum zu einem inneren Phänomen (und gleichzeitig auch zu einem Problem), obwohl er in seiner jetzigen Form von außerhalb nach Russland gekommen ist.

Nationalisierung des Konsums

Faktisch gilt in Russland nur der Konsum auf westliche Art als richtig und einzig möglich. Deshalb akzeptieren die Anhänger des „Westentums“ keine, selbst vernünftige Argumente für die Nützlichkeit der Gegensanktionen: Zum Beispiel, dass die einheimische Landwirtschaft davon profitieren könnte.

Ganz offensichtlich ist aber auch, dass das moderne Russland nicht auf den Konsum verzichten will, der inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden und keine „verbotene Frucht“ ist. Wie lässt sich allerdings das Problem des modernen Konsums lösen, der ein äußerst wichtiges Element der Wirtschaft ist und bleibt (egal ob der reellen oder virtuellen)?

Der Konsum ist ein Teil bzw. eine Fortsetzung der globalen Politik und großenteils selbst Politik geworden.  Das bedeutet, dass die Entwicklung der nationalen Wirtschaft und der nationalen Politik direkt mit der Notwendigkeit der Nationalisierung des Konsums verbunden ist.

Ohne den nationalen Konsum, der nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt als Kaufkraft der Bevölkerung, sondern auch die humanitäre Komponente als Ideologie beinhaltet, ist die Entwicklung der nationalen Produktion unmöglich. Dafür muss der westlich geprägte Konsum entlarvt werden, und zwar nicht nur für die Elite, sondern auch für die Volksmassen.

Um den Konsum auf demselben Niveau zu halten, auf dem er sich im Westen und vor allem in den USA befindet, muss dasselbe Niveau der Verdummung der Volksmassen wie in den USA erreicht werden. In Russland ist aber dieser Grad der Unfreiheit der Gesellschaft noch nicht erreicht worden. Das ermöglicht die Chance, dass die Gesellschaft irgendwann einsehen wird, dass sie des Konsums überdrüssig ist.

Andernfalls wird Russland wieder gegen Jeans und billiges Fastfood aufgegeben werden. Zumal der Westen über jahrhundertelange Kolonisierungserfahrungen verfügt, wie man mit Ureinwohnern riesige Territorien gegen Glasperlen tauscht.