Vor dem Hintergrund des immer lauter werdenden Geschreis mancher russischer Politiker, das Russische Reich sollte wiederbelebt werden, möchten wir unsere Leser daran erinnern, dass die neue nationale Ideologie, von der das russische Establishment allmählich erfasst wird, nichts mit den imperialen Ambitionen einzelner prominenter Persönlichkeiten zu tun hat, allerdings mit der Idee verbunden ist, dass Russland ein Land mit seiner eigenen Zivilisation ist. Deshalb sollte man beispielsweise solche Aufrufe wie den des Vorsitzenden der Liberaldemokratischen Partei, Wladimir Schirinowski, die aktuelle russische weiß-blau-rote Staatsflagge sollte durch die schwarz-gelb-weiße Flagge des Russischen Reiches ersetzt werden, so sehen, wie Präsident Wladimir Putin in Jalta quasi empfohlen hat. Nach seinen Worten hat Schirinowski „gut reden, aber das ist seine persönliche Meinung, die nicht immer mit der offiziellen Position der Russischen Föderation übereinstimmt.“

Natürlich stellen sich viele Menschen die Frage: Warum verkündet der Präsident nicht die Grundsätze der neuen nationalen Idee? Manche werden nahezu hysterisch, wenn sie vorschlagen, die russische Verfassung zu ideologisieren. Die Antwort ist ganz einfach: Alles muss rechtzeitig getan werden. Es ist ja offensichtlich, dass eine richtige nationale Idee dem Volk nicht aufgezwungen werden kann, das im 20. Jahrhundert ohnehin zwei Mal den Fehler beging, populistischen Führern zu folgen: im Jahre 1917 und in den 1990er-Jahren, als die so genannten „liberalen Reformen“ umgesetzt wurden. Wladimir Putin ist offensichtlich kein Populist und versteht sehr gut, dass das Volk auf eine solche Idee selbst kommen muss – und erst dann können die Machthaber verkünden, dass diese Idee vorhanden ist.

Eine richtige nationale Idee entsteht heutzutage in Noworossija (Neurussland). Sie entsteht nicht in den Arbeitszimmern der Führer von neuen Gebilden verschiedener Art, sondern in einer blutigen Konfrontation zwischen russischen Menschen und einer neuen nazistischen Clique, die von den Mächtigen dieser Welt losgelassen wurde, und zwar wieder gegen Russland.

Diese Clique folgt dem von Hitler ausgerufenen „Drang nach Osten“ und bewegt sich seit zwei Jahrzehnten in Richtung russische Grenze, aber nicht um „ein Großes Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ zu bilden, sondern mit ganz anderen Zielen. Mit welchen? Das sieht man sehr gut am Beispiel Ukraine, wo der „zivilisierte“ Westen (Nato, EU, US-Außenministerium usw.) alles unterstützt, was gegen Russland, die Russische Welt und die Idee eines einheitlichen Eurasiens gerichtet ist.

Ganz am Anfang der blutigen Ereignisse in der Südostukraine konnten die Einwohner der Gebiete Donezk und Lugansk, die die immer stärker werdende Gefahr für ihre gewohnte und für sie wertvolle Welt – mit der russischen Sprache, der postsowjetischen internationalen Kultur und den orthodoxen Werten – spürten, nicht erklären, wieso diese Gefahren „plötzlich“ entstanden waren. Aber es ist unmöglich, nazistischen Reflexen ohne eine starke ideologische Unterstützung Widerstand zu leisten, besonders wenn man es mit der militärischen Kraft eines ganzen Staates und mit privaten Armeen von Oligarchen zu tun hat, die die Unterstützung der stärksten Großmacht der Welt genießen.

Natürlich ist eine liberale Idee in einer solchen Situation untauglich, genauso wie sie untauglich war, als das „politkorrekte“ Europa während des Zweiten Weltkriegs den Nazis keinen Widerstand leisten konnte. Leider hat niemand den ostukrainischen Widerstandskämpfern eine neue klare Idee vorgeschlagen. Die Menschen in Neurussland mussten eine solche Idee selbst suchen. Sie nahmen alles an, was nach ihrer Auffassung hilfreich beim Widerstand gegen die Idee einer „einheitlichen Ukraine ohne Russen“ sein könnte: So suchten sie nach Alternativen in den sowjetischen und in den alten imperialen Ideen, im orthodoxen Glauben und der antifaschistischen Solidarität, in den Pseudoanalysen der „Konzeption der gesellschaftlichen Sicherheit“ und der „relativ allgemeinen Verwaltungstheorie“, in den Videospots der russischen Kommunisten und Liberaldemokraten und wurden dabei von raffinierten Moderatoren eines bekannten Moskauer Radiosenders ausgelacht. Aber Schritt für Schritt verstanden die Widerstandskämpfer den Sinn der in der Welt vor sich gehenden Umwandlungen. Sie wurden allmählich den pseudoideologischen Hintergrund los, und jetzt sehen wir, dass in der Südostukraine die Idee der Souveränität der Russischen Welt entsteht, die sich wieder gegen den Westen wehren muss. Gegen den Westen als globaler Markt und die „Geld-, Technologien- und Unterhaltungswelt“, die sich in eine „Chaos-, Gewalt- und Perversionswelt“ transformiert.

Genauer gesagt, entsteht diese Idee nicht, sondern erlebt eine Renaissance: Sie taucht aus der Tiefe des Volksgedächtnisses, aus dem nationalen Unterbewusstsein (Archive, Bibliotheken usw.) als ein wertvolles intellektuelles Erbe auf, das wiederentdeckt und neu begriffen werden muss.

Bei diesem Erbe handelt es sich um Dutzende herausragende russische und sowjetische Denker: Sie haben Tausende Werke geschaffen, die aber im 20. Jahrhundert in Vergessenheit geraten sind, jetzt allerdings vom Publikum mit Dankbarkeit wieder wahrgenommen werden.

Man muss nicht allzu tief in die russische Geschichte zurückgehen und das Publikum an den Alten Philotheus von Pskow, an den Heiligen Sergius von Radonesch oder an den ersten Metropoliten Alexej von Moskau erinnern. Es genügt, einige Namen aus dem für die russische Philosophie „goldenen“ 19. Jahrhundert zu erwähnen.

Einer der ersten russischen Denker, dessen Werke die Basis der Zivilisationsideologie begründet haben, war der herausragende Historiker Nikolai Danilewski, der noch vor etwa 150 Jahren über den Westen, die Slawen und die russische Idee eigentlich fast alles gesagt hat. Noch mehr als das: Danilewskis Werk „Russland und Europa“, das nach Einschätzung Fjodor Dostojewskis „das Handbuch eines jeden Russen werden sollte“, bildete faktisch die Grundlage der Zivilisationskonzeptionen solcher „Schwergewichtler“ wie der internationalen Soziologie Oswald Spengler, wie Pitirim Sorokin und Arnold Toynbee.

Wenn wir über Werke sprechen, die der Analyse der Wurzeln der russischen Zivilisation gewidmet sind, müssen wir das Buch „Byzantinismus und Slawentum“ von Konstantin Leontjew sowie die Werke solcher Denker wie Pawel Florenski, Wladimir Solowjow und Nikolai Berdjajew nennen, die die Basis der Zivilisationsaxiologie bildeten. Dazu gehören auch die Werke solcher russischen Anhänger des Eurasientums wie Nikolai Trubezkoi, Pjotr Sawizki, Georgi Florowski, Leo Karsawin, Wladimir und Georgi Wernadski, Nikolai Alexejew usw. So hat Nikolai Trubezkoi beispielsweise die Idee der „Zivilisationsherausforderung bzw. Zivilisationsantwort“ viel früher formuliert als der international anerkannte Klassiker der Zivilisationskunde Arnold Toynbee. Wladimir Wernadski war seinerseits der erste, der bei der Erforschung von Problemen der globalen Zivilisation auf die noosphärische (sprich systematische) Methode zurückgriff.

Enorm wichtig waren für die Entwicklung der Zivilisationstheorie und —ideologie auch die Werke solcher russischen und sowjetischen Denker wie Leo Metschnikow, Leo Gumiljow, Boris Rybakow und Nikita Moissejew. So erforschte Leo Metschnikow die russische Zivilisation aus der Sicht der physischen Geografie und der sozialen Anthropologie und schloss damit die Lücken in der internationalen Zivilisationskunde, die sich hauptsächlich an interkulturellen und politökonomischen Faktoren orientierte. Und die Werke des „Superhirns“ Leo Gumiljow, die zwar nur indirekt mit den „Zivilisationstheorien“ verbunden waren, waren im Grunde nichts als unübertroffene Analysen von historischen Prozessen, die sich im Laufe von Jahrtausenden im Rahmen der russischen und eurasischen Identität ereigneten.

Enorm wichtig sind und bleiben die Werke des russischen Akademiemitglieds Nikita  Moissejew, in denen er Ansichten zum Ausdruck brachte, die später für den bekannten US-amerikanischen Soziologen Samuel Huntington typisch waren. Und schließlich gab es noch einen herausragenden russischen Denker, der sich nicht aus imperialer Sicht, sondern aus der Zivilisationssicht äußerte: Alexander Sinowjew, dessen Werke aus moderner Sicht eine Art „technische Vorgabe“ für die neue nationale Idee sind, wenn nicht sogar das Fundament dafür.

In den russischen Medien – ob in staatlichen oder privaten – gibt es zum Zivilisationsproblem kaum etwas zu finden: Sie befassen sich mit solchen Themen grundsätzlich nicht. Deshalb muss die neue Ideologie andere Wege zu den Herzen und Köpfen der Russen suchen.

Erstens gerät sie nach Russland durch die Erschließung des oben erwähnten Erbes, nämlich durch die Idee des Eurasientums, die der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew den im eurasischen Raum gelegenen Ländern seit gut zwei Jahrzehnten beizubringen versucht. Erwähnenswert sind in diesem Kontext auch viele Werke der modernen russischen Zivilisationsforscher wie Alexander Panarin, Juri Jakowez, Alexander Kostjajew, Nadeschda Maximowa, usw.

Zweitens wird die neue Ideologie von Aussagen russischer Politiker geprägt, die es sich wegen ihrer großen Verantwortung nicht leisten können, banale Beamte zu sein, und an die Zukunft des Landes denken müssen. (Es geht dabei vor allem um den Präsidenten Russlands, den Patriarchen Kyrill von Moskau und ganz Russland und den Vorsitzenden des russischen Verfassungsgerichts, Valeri Sorkin, der vor kurzem den glänzenden Artikel „Die Zivilisation des Rechts“ geschrieben hat.)

Und drittens wird die Zivilisationsidee den Russen in Texten und Gestalten vermittelt, die heutzutage in bzw. um Neurussland entstehen.

Damit wird die Idee von Russland als Land mit seiner eigenen Zivilisation von dem multinationalen russischen bzw. neurussischen Volk entworfen. Was die neue nationale Idee im Grunde ist, schildern wir in unseren weiteren Artikeln.