Kurz vor dem 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs teilte die Vertreterin der EU-Kommission Martine Reicherts mit, dass der Krieg von Russland entfacht wurde. Das russische Außenministerium bezeichnete ihre Äußerung als „hämische Blasphemie, die die Grenze zwischen Guten und Bösen verwischt und das Gedenken an 27 Millionen sowjetische Menschen verhöhnt, die ihr Leben gegeben haben, um die Welt von der braunen Pest zu befreien“.

Ziele der „Geschichtspolitik“ der USA

Bei der Zustimmung zur Einschätzung des russischen Außenministeriums darf nicht vergessen werden, dass die europäischen Politiker aus der zweiten Reihe, die sich voneinander wegen ihrer Eintönigkeit kaum unterscheiden, nichts Neues gesagt haben. Vor fünf Jahren, kurz vor dem 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, begann im Westen und in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken eine großangelegte antisowjetische und antirussische Propagandakampagne. Die These über die Verantwortung der Sowjetunion und Deutschlands für die Entfesselung des Weltkrieges war fast in jedem europäischen Hinterhof zu hören. Auch jetzt kommen solche Äußerungen und Resolutionen fast aus allen Orten. PR-Kampagnen zur Verunglimpfung der gefallenen Kämpfer gegen den Faschismus im „zivilisierten Europa“ wurden ein neuer Trend und ein neuer „Wert“.

Der Experte Oleg Schischkin schrieb bei der Analyse dieser Erscheinung: „Nur ein sehr naiver Mensch könnte vermuten, dass Politiker, Politologen und Schriftsteller auf einmal Interesse an Geschichte zeigten und sich für historische Gerechtigkeit stark machen. Wir haben es nicht mit historischen Forschungen sondern mit ‚Geschichtspolitik‘ zu tun. Die Revision der Geschichte ist also kein historisches sondern ein politisches, genauer gesagt ein geopolitisches Problem… Das Manipulieren der Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist eines der Instrumente zur Umsetzung des Projekts zum Aufbau einer unipolaren Welt, einer Neuen Weltordnung. Mit diesem Projekt sind strategische Interessen der einflussreichen Kräfte des Westens verbunden. Deshalb geht es bei dem ‚Spiel um die Geschichte‘ nicht um Geld und Territorien, sondern um die Zukunft Russlands als souveräner Staat, als ein selbstständiges zivilisatorisches und politisches Zentrums. Obwohl bei einem Erfolg uns auch Geld und Territorien weggenommen werden“.

Falls wir es zulassen, werden uns auch die Bodenschätze genommen. Die Bevölkerungszahl und –struktur wird auf eine aus der Sicht Washingtons optimale Größe gebracht. Die Russische Föderation wird in „unabhängige Fürstentümer“ gespalten.

Das Jalta-Potsdam-System der internationalen Beziehungen wurde zum Ergebnis des Zweiten Weltkriegs. 1945 wurde die entscheidende Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung von Hitler-Deutschland und seiner Satelliten kaum von jemandem bestritten, darunter auch nicht durch die USA und Großbritannien. Die Sowjetunion als einer der Schöpfer des Jalta-Potsdam-Systems, wurde nicht nur ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats sondern der Hauptrivale der USA in der Welt. So blieb die Sowjetunion bis zu ihrem Zerfall.

Anfang der 1990er-Jahre war Washington den Konkurrenten losgeworden und hat Kurs auf den Aufbau einer unipolaren Welt genommen. Russland blieb zwar ein schwaches, aber immerhin ein Hindernis auf seinem Weg. Um den Status unseres Staates in der Weltarena zu ändern, wurde die Kampagne zur Neuschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gestartet. Sieger im Kampf gegen den Faschismus werden im Westen als Aggressoren und Verantwortliche für den Krieg dargestellt. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wird so gelehrt, dass man sich kaum darüber wundern muss, dass viele US-amerikanische und europäische Schüler nicht einmal wissen, wer gegen wen von 1939 bis 1945 kämpfte. Dafür aber wissen sie ganz gut, dass es der Westen war, der die Welt vom Faschismus befreite!

„Geschichtspolitik“ der Länder Osteuropas

Die von Washington bestimmten Rollen im globalen geopolitischen Spiel wurden auch von osteuropäischen Ländern übernommen. Ihre Herrscher unternehmen alles Mögliche, um den Amerikanern ihre Loyalität und Bereitschaft zu zeigen, Russland und den Russen zu schädigen, auch wenn dies ihnen selbst schaden würde.

Den Drang der Eliten der neuen Nato-Mitgliedstaaten nutzt die Führung der Allianz für ihre eigenen Ziele. Zugleich ist ein verächtliches Verhalten gegenüber den Ländern Osteuropas zu erkennen. Im Mai 2014 sorgte ein Skandal in Lettland für Aufsehen, der durch das Verhalten von Nato-Marinesoldaten in Ventspils ausgelöst wurde. Bürgermeister Aivars Lembergs schrieb in einem Brief an den Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen: „Die Marinesoldaten der Nato in Ventspils benehmen sich wie Schweine, sie ignorieren die Gesetze Lettlands und die obligatorischen Regeln der Selbstverwaltung von Ventspils. Sie pinkelten betrunken an öffentlichen Orten und an Schaufenster, tranken Alkohol an öffentlichen Orten, was bei uns nicht erlaubt ist. Sie pflückten Blumen aus Blumenbeeten, um sie Prostituierten zu schenken. Sie benahmen sich wie Besatzer, die die Souveränität Lettlands und seine Gesetze nicht anerkennen“.

Diese offene Äußerung ist sehr wichtig. Die europäischen Politiker sind selten so aufrichtig. Doch es ist nicht klar, von welcher Souveränität Lettlands der Bürgermeister sprach. Während der Perestroika von Gorbatschow wurde das Motto des Kampfes für die Unabhängigkeit von den baltischen Politikern aktiv genutzt, die nach der Macht und der Teilung des während der Existenz der Sowjetunion entstandenen Vermögens strebten. Nachdem sie unabhängig wurden, strebten sie die unzuverlässigen Arme der EU und USA an. Jetzt wundern sie sich aber, dass sich die Nato als Besatzer benimmt.

Zugleich löst die Geschichtspolitik der auf den Westen ausgerichteten Eliten der osteuropäischen Länder auch eigene Aufgaben. Die wichtigste davon ist, die Macht und das Vermögen beizubehalten, die ihnen beim Ausrauben der sowjetischen Hinterlassenschaften in die Hände fielen. Die Geschichtspolitik soll Fakten und Argumente zugunsten der antirussischen Position der Separatisten liefern, die die Macht in den ehemaligen sowjetischen Republiken ergriffen.

Dabei werden alle möglichen Instrumente genutzt. Vor fünf Jahren feierte der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko den 350. Jahrestag der Schlacht bei Konotopa – das war nicht der wichtigste Kampf des russisch-polnischen Krieges 1654-1667. Im September feierte Litauen den 500. Jahrestag der Schlacht bei Orscha, bei der die vereinigten Kräfte des Großfürstentums Litauen und des Königreichs Polens die Einheiten von Iwan Tscheljadnin und Michail Bulgakow-Goliza niederrangen. Doch darauf folgte der Marsch nach Smolensk, der mit der Niederlage der Polen und Litauer endete. Der russisch-litauische Krieg dauerte weitere acht Jahre. Der Sieg bei Orscha war eines der wenigen positiven Momente für Litauen in diesem Krieg.

Man wird kaum daran zweifeln, dass die ukrainischen und baltischen Historiker weiter nach historischen Ereignissen suchen werden, an denen ihre Völker mit Waffen in den Händen den Russen Widerstand leisteten. Sie haben auch eine weitere wichtige Aufgabe – Kollaborateure reinzuwaschen, die zu den Nazis überliefen und Adolf Hitler den Eid leisteten. Nicht zufällig wird seit Beginn der 1990er-Jahre von den ukrainischen Behörden die Aufmerksamkeit den Extremisten der Ukrainischen Aufständischen-Armee und den Kämpfern der Division „Galitschina“ gewidmet. Ebenfalls verständlich sind die Sorgen der estnischen Behörden um die Veteranen der 20. SS-Grenadier-Division und ihrer lettischen Kollegen – alte Kämpfer aus der 15. und 19. SS-Grenadier-Division. Sie alle waren doch „Patrioten ihrer Heimat“ und kämpften gegen „sowjetische Besatzer“. Jetzt soll man sich nicht mehr daran erinnern, dass die ukrainischen und baltischen Kämpfer friedliche  Einwohner vonRussland, Weißrussland und Polen töteten…

Initiative ging vom Westen aus

Ich beantwortete die Frage, wer den Zweiten Weltkrieg entfesselte, bereits in meinem Artikel „Auf den Spuren der Nazi-Kollaborateure“. Daraufhin veröffentlichte die Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ einen Artikel von Leonid Radsichowski, in dem geschrieben steht, dass Stalin im August 1939 Hitler dazu bewegte, „die Beute zu teilen“.

Es ging in der Tat darum, gegen wen Hitler nach der Zerschlagung Polens kämpfen sollte. Die Unterzeichnung des Nichtangriffspakts zwischen Deutschland und der Sowjetunion löste die Frage zugunsten der Sowjetunion, weil die Wehrmacht gen Westen vordrang und die Sowjetunion Zeit für die Vorbereitung auf die entscheidende Schlacht gegen Deutschland bekam und nicht mehr Gefahr lief, an zwei Fronten zu kämpfen – der bewaffnete Konflikt gegen Japan in Khalkin Hol dauerte noch an.

Vor zehn Jahren sagte Alexander Sinowjew in einem Interview von mir für die „Literaturnaja Gaseta“:

„Der Zweite Weltkrieg war sozial inhomogen. Er enthielt zwei Kriegstypen – Teilung der Welt und sozialer Krieg. Also den Krieg zwischen zwei sozialen Systemen – zwischen Kommunismus und Kapitalismus“

Der Krieg zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion war de facto ein Versuch der westlichen Länder, die kommunistische Gesellschaft in der Sowjetunion zu zerschlagen. Dabei war der soziale Krieg der wichtigste Teil des Zweiten Weltkriegs. Das war kein Krieg, in dem die Partner für seine Entfesselung gleichermaßen verantwortlich waren. Die Initiative ging vom Westen aus“.