Michail Prochorow hat einen Programmartikel „NEP 2.0“ (NEP – Abk. für Neue Ökonomische Politik) vorgestellt. Der dritte Teil dieses Programms hat für großes Aufsehen gesorgt, weil dort die für die Gesellschaft sensibelsten Themen der neuen Sozialpolitik angeschnitten wurden – Arbeit, Medizin, Bildung… Die von Prochorow geäußerten Ideen sind vor allem deshalb interessant, weil sie die grundlegenden Prinzipien des liberal-kapitalistischen Projekts einer sozialen Umgestaltung der Gesellschaft wiedergeben, hinter denen ein globales Machtsubjekt steht. Eine Hürde bei der Umsetzung dieses Projekts bleibt der Sozialstaat.

Geheimboten der globalen Übergesellschaft

Es wäre falsch, die Äußerungen Prochorows, die ziemlich kontinuierlich sind, als eine Art politische Show eines Politiker-Milliardärs wahrzunehmen. Es ist sinnlos, ihm Unmoral und Kannibalismus vorzuwerfen. Prochorow drückt die Ideen eines einheitlichen Systems der Ansichten und Ideologie der westlichen globalen Übergesellschaft (Terminologie von Alexander Sinowjew) aus und ist einer seiner Ideen-Geheimboten. Die globale Übergesellschaft richtet sich nach einem anderen Moral- und Werte-Modell. Die Grundlage dieser Ideologie ist die Macht, die auf einer sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit und dem Einteilen der Menschen in niedrigste und oberste Stufen basiert. Es wird immer schwieriger, die Krise der jetzigen sozialwirtschaftlichen Struktur, die Zerstörung des Konsens nicht zu bemerken. Deswegen wollen mehrere globale Akteure sie voranbringen.

Es kann der Eindruck entstehen, dass  Prochorows Artikel selbst auf der Ebene der politischen Sprache ein Echo der 1990-er Jahre ist. Doch das stimmt nicht. Im Gegenteil: Prochorows Artikel ist eine harte Antwort auf die begonnenen Veränderungen. Es wird ein Handlungsplan auf Grundlage des alten amerikanischen liberal-kapitalistischen Modells des sozialen Aufbaus mit seinem Verhalten zur Arbeit und zu den Menschen geschaffen, dessen Ziel die Aufrechterhaltung der Macht des Kapitals durch eine soziale Umbildung der gesamten Menschheit ist.

Der erste Schritt bei dieser Umgestaltung ist die Demontage der Wohlfahrtgesellschaft, die eine der Hauptmissionen des Wissenschafts- und technischen Fortschritts wurde. Prochorow ist unzufrieden: „unsere Sozialpolitik ist nicht auf die Schaffung der Möglichkeiten zur Selbstrealisierung der Persönlichkeit, sondern vor allem auf die Aufrechterhaltung eines bestimmten Wohlstandsniveaus für alle gerichtet“. Das sagte bereits der neue niederländische König, Willem-Alexander, im September 2013: „Den Sozialstaat des 20. Jahrhunderts gibt es nicht mehr“. Stattdessen wurde eine Gesellschaft der aktiven Teilnahme erklärt.

Soziale Umgestaltung der Menschheit

Es wäre naiv zu glauben, dass es sich ausschließlich um ein effektives Geschäft handelt, das zwar keine Verpflichtungen vor der Gesellschaft und keine Einschränkungen seitens des Staates hat, jedoch eine effektive Arbeit der Beiden sichert. Die Wirtschaft und das Geschäft sind kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur sozialen Umgestaltung. Dabei erfolgt ein Verkomplizieren der sozialen und professionellen Struktur der Gesellschaft (wegen der Entwicklung der neuen technologischen Strukturen) parallel mit der Vereinfachung und Archaisierung ihrer Struktur, die in einer einfachen überklassigen Teilung ausgedrückt wird: Kapital-Macht  — Arbeiter-Sklave, wobei letzterer entmenschlicht wird.

Das Projekt der Wohlfahrtgesellschaft, das zugleich in der Sowjetunion und im Westen unter der Federführung der USA umgesetzt wurde, ist angesichts des Endes der globalen Konfrontation von zwei Systemen nicht mehr notwendig.  Es erfüllt keine ideologischen Funktionen mehr. Zudem wurde die allgemeine Wohlfahrt gefährlich. George Orwell schrieb darüber in seinem Roman „1984“ im Teil über die Theorie und Praxis des Oligarchie-Kollektivismus: „…das allgemeine Wachstum des Wohlstandes droht der Hierarchie-Gesellschaft mit dem Tod. In einem gewissen Sinne ist es bereits der Tod. Wenn der Reichtum allgemein wird, bringt er keine Unterschiede mehr mit sich. Wenn sich alle mit Wohlstand und Hobbys begnügen können, wird eine riesengroße Masse von Menschen, die wegen Armut dumm wurde, klüger und kann jetzt denken, wonach diese Menschen früher oder später verstehen, dass die privilegierte Minderheit ihre Funktionen nicht erfüllt und sie verlieren wird”.

Die Sowjetunion wurde durch den Westen zerstört, wodurch die Möglichkeiten für eine soziale Konterrevolution eröffnet wurden, die sich im globalen Ausmaß als soziale Katastrophe erwies. Doch die Prinzipien der sowjetischen Übergesellschaft wurden nicht völlig vernichtet, sie blieben bestehen und können auch in der modernen Gesellschaft verwirklicht werden. Das beunruhigt Prochorow: „Ein Staat, der zu viel Verantwortung übernimmt, unterstützt das sowjetische Verhalten der Gesellschaft zu Bildung und Gesundheitswesen als Nichtindustrie-Bereiche, als etwas, was kostenlos erhalten werden kann, wobei die Entwicklung von modernen Geschäftsmodellen gebremst wird”. Damit bedeutet NEP 2.0 (richtiger wäre Sklaverei 2.0) das Ende der gesellschaftlich nützlichen Arbeit und die Demontage des Sozialstaates.

Der Staat wird unter Hypnose vernichtet

Bislang wurden die Funktionen der sozialen Hypnose und des Schaufensters der kapitalistischen Gesellschaft mittels Konsum erfüllt, der immer noch mit Wohlstand verbunden wird, obwohl er zum universellen Instrument der Entfremdung und zur Rückkehr der Entlohnung und Kapitalbereicherung wurde, was in diesem geschlossenen System das einzige vollberechtigte Machtsubjekt ist. Doch die Erweiterung des Konsums hat auch ihre Grenzen und erreicht eine Etappe, in der er nicht mehr ohne Antriebe und Zwang funktionieren kann.

Die magische Kraft des Konsums, die während des Kalten Krieges zu erkennen war, verschwindet. Ein neues Instrument, das beim Kaschieren der realen Machtmechanismen hilft, ist das so genannte menschliche Kapital. Darüber spricht auch Prochorow. Die moderne Wirtschaft ist eine Wirtschaft des menschlichen Kapitals, wo der Mensch „das wichtigste Aktiv und die Quelle des Mehrwerts ist“. Hier ist eine wichtige Sache zu klären. Das menschliche Kapital wird von der Gesellschaft als etwas Positives wahrgenommen – der Mensch ist wertvoll. Doch das Kapital nimmt das ganz anders wahr, im archaischen Sinne – die Zahl der Sklaven und die Qualität der Sklavenkraft ist das Kapital des Herren. Das menschliche Kapital ist die höchste Dehumanisierungsform. Prochorow schrieb darüber ganz offen: „Das System der Wohn- und kommunalen Wirtschaft, der öffentliche Verkehr und Lebensmittel, die Tätigkeit der Rechtsschutzorgane, Wissenschaft und Verteidigung – das sind wichtige Wirtschafts- und Dienstleistungsbereiche, doch sie sollen nicht mit der menschlichen Reproduktion vermischt werden“.

Das Verständnis davon wird durch eine starke Bearbeitung des Bewusstseins gestört, die die moderne Wirtschaft bedient. Das Schlimmste ist, dass die Thesen Prochorows von der russischen so genannten kreativen Klasse unterstützt werden, die sein Programm unterstützt, als ob es sie selbst nie treffen würde. Warum geschieht so etwas? Es geht darum, dass die Grundlage des Bewusstseins der kreativen Klasse, die die Ideologie der liberalen Reformen unterstützt, eine falsche soziale Identität ist. Die kreative Klasse bezeichnet sich als eine Erstklassen-Gesellschaft und assoziiert ihre Interessen mit den Interessen des Kapitals, wobei sie jedoch selbst eingestellte Mitarbeiter bleiben.

Die falsche Identität ist heute ein Instrument nicht nur in der Geopolitik (was bereits in der Ukraine gut zu sehen ist), sondern auch im Sozialsystem, was in Russland zu sehen ist. Die Initiativen Prochorows werden von der überwiegenden Mehrheit als wild und antisozial wahrgenommen. Doch was wird, wenn sie informelle und humanitäre Unterstützung bekommen? Man muss begreifen, dass im Falle der Schwächung des Staates der globale liberale Kapitalismus blitzschnell eine großangelegte und tiefere soziale Strafaktion als in den 1990er Jahren umsetzen wird, deren Plan bereits konzipiert und veröffentlicht wurde.