„Wenn ich von einer wahren Demokratie spreche, gebe ich beim Wort „wahr“ keine Einschätzungen – weder positive noch negative. Wahr bedeutet real, echt, nicht gefälscht“.

A. Sinowjew „Wahre und gefälschte Demokratie“

 

Nach dem Kalten Krieg gilt die westliche liberale Demokratie als die höchste und einzig mögliche soziale Ordnung der Menschheit. Mit der Verbreitung der Demokratie begründeten die USA ihre Beteiligung an allen Konflikten und Revolutionen von Jugoslawien bis zum Irak und der Ukraine. Versuchen wir zu klären, was der Westen der Welt anbietet, was die heutige Demokratie bedeutet und ob sie Gemeinsamkeiten mit der kulturhistorischen bzw. wahren Demokratie im Sinne des obenstehenden Zitats hat. Oder will man uns unter dem Deckmantel dieses attraktiven Begriffs etwas ganz anderes aufdrängen?

Demokratie 1.0

Demokratie entstand im altgriechischen Polis als ein Machtinstrument, mit dem eine Minderheit die Mehrheit kontrollieren konnte. Das ist von prinzipieller Bedeutung, weil das ein grundlegendes systematisches Merkmal der wahren Demokratie ist. Bürger hatten mittels demokratischen Instrumenten die Macht über andere, die keinen Zugang zu diesen Instrumenten hatten (Nichtbürger, Sklaven, Frauen). Die Bürger kamen mit demokratischen Instrumenten an die Macht. Mit der Macht (bzw. ihrer Teilhabe an der Macht) wurde der Bürger gleichzeitig dazu verpflichtet, seinen Platz in der Kolonne einzunehmen und notfalls für den Staat zu sterben. Das Recht auf die Macht wurde bei einer wahren Demokratie mit Blut und Leben und nicht mit Geld, wie es später der Fall war, bezahlt. Bei der altrömischen Demokratie handelte es sich ebenfalls um die Macht einer Minderheit über die Mehrheit. Das Recht des Bürgers, an dieser Macht teilzuhaben, wurde von der Pflicht begleitet, einen Platz in einer römischen Legion einzunehmen und notfalls in der Schlacht zu sterben. Die Minderheit der römischen Bürger, die in einem Staat via demokratische Instrumente und das römische Recht organisiert wurde, hatte die Macht über riesengroße Territorien und Volksmassen, die nicht an der Demokratie und deswegen auch nicht an der Macht beteiligt waren. Der Verfall der antiken Demokratie erfolgte durch die Erweiterung und eine vereinfachte Erhaltung der Staatsbürgerschaft, als sich der Demokratie neue Bürger anschlossen und das Recht auf die Macht nicht mehr durch die Verpflichtung ausbalanciert wurde, für die Heimat zu sterben. Eine kleinere Gruppe von Regierenden musste tatsächlich die Volksmassen versorgen, die formell dieselben Rechte auf die Macht hatten. So entstand eine besondere Art der sozialen Abhängigkeit – die Klientel als Machtinstrument kleinerer Gruppen unter dem Deckmantel einer Massendemokratie. Die Demokratie verwandelte sich von einer Staatsform in eine Form der Gesellschaft, die den Staat unterordnete. Die römische Welt, die sich auf den Staat stützte, begann zu zerfallen. Die Lösung bestand im Wiederaufbau der Staatsmacht. Es entstanden das mächtige Kaisertum, das die Demokratie für mehrere Jahrhunderte nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Staat verschwinden ließen. Damit bekamen Rom und Byzanz  weitere 500 bzw. fast 1500 Jahre Geschichte.

So sieht kurz gefasst die Muster (wahre)-Demokratie und ihr historisches Schicksal aus.

Demokratie 2.0

Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) entstanden als Projekt, das auf Rückschlüssen zum Thema antike Demokratie basierte. Man kann auch deutlicher sagen – die USA wurden nach dem altrömischen Prototyp konzipiert. Die US-Demokratie wurde ebenfalls als eine Machtform einer Minderheit über die Mehrheit geschaffen. Das Recht auf Staatsbürgerschaft war ein Zensusrecht. Die US-Verfassung, die mit den Worten „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten“ beginnt, sah einen Zensus in Bezug auf Vermögen, Rasse, Geschlecht und Alter vor. Damit wurden politische Rechte verteilt und das regierende Volk gebildet. Aus dem Volk wurden aber viele Gruppen und Minderheiten ausgeschlossen: Indianer, Sklaven, Schwarzhäutige, Frauen, Arme, Staatenlose. Das Recht auf die Beteiligung an demokratische Verfahren wurde zwar nicht mit dem Leben, aber mit Geld bezahlt. Diejenigen, die in der Lage waren, den Staat zu unterhalten, erhielten das Recht auf die Macht – über die Demokratie für die Regierungsklasse. Alle anderen hatten keine Verbindung zur Demokratie.

Der Grund des Verfalls der US-Demokratie 2.0 (die dem antiken Vorbild und deswegen auch der wahren Demokratie stark ähnelte) war die Sowjetunion, die als erste (wenn auch formal) das allgemeine gleiche Wahlrecht umsetzte. Die USA hatten in den 1960er-Jahren ebenfalls dieses Recht eingeführt, weil sie wegen des Wettbewerbs mit der Sowjetunion nicht anders vorgehen konnten. Die Demokratie wurde nicht nur eine Massen-, wie einst in der späten Römischen Republik, sondern auch eine allgemeine, also totale Erscheinung. Heute sind zu den demokratischen Prozessen nicht nur diejenigen zugelassen, die sie entweder mit ihrem Leben oder mit Geld bezahlen. Über dieselben politischen Rechte verfügen Menschen, die keine Steuern zahlen und diejenigen, die vom Staat mit Sozialhilfen und andere Mechanismen versorgt werden. Es gibt viele solche Menschen. Die reale Regierungsklasse versteckte sich wieder hinter einer Pseudodemokratie. Ihre Macht entsteht mithilfe der konzipierten und umgesetzten Konsumgesellschaft, Manipulationen bei Wahlkampagnen (die so genannte lenkbare Demokratie), Sozialhilfen für Mittellose. Das alles ist nichts anderes als eine Existenzform der heutigen Klientel und ihrer Regenten, als eine exakte Nachahmung der spätrömischen Republik. Das Wichtigste ist, dass die Demokratie, die heutzutage nur nach ihrer Form, nicht aber ihrem wahren Inhalt nach existiert, mit jedem weiteren Tag immer schlechter funktioniert. Immer mehr Menschen verstehen das. Die wahre Demokratie wurde im 20. Jahrhundert erneut zu Grabe getragen.

Was kommt danach?

Kann eine neue Demokratie (3.0) konzipiert werden, die wieder wahr sein wird?

Die Anhänger der liberaldemokratischen Idee sowohl in Russland als auch im Westen diskutieren Möglichkeiten der Rückkehr zur Zensusdemokratie. Ihnen zufolge sollen über politische Rechte nur diejenigen verfügen, die es verdienen. Das soll durch Vermögens- und Bildungskriterien bestimmt werden. Wenn Bürger Sozialhilfe vom Staat beziehen, sollen sie automatisch ihre politischen Rechte verlieren. Das wichtigste Kriterium für den Zensus soll das für die anglosächsische Zivilisation heilige Vermögensrecht sein.

Eine Alternative besteht umgekehrt darin, dass man für die Macht mit dem Verzicht auf Vermögensrecht und Reichtum zahlen soll. Wer regieren will, soll auf Vermögen und Bereicherung verzichten. Die Vermögenrechte sollen der demokratisch aufgebauten Regierungsklasse entzogen werden.

Doch bei allen Szenarien sind sich alle Seiten darin einig, dass eine wahre Demokratie eine Machtform einer „speziell ausgewählten“ Minderheit ist, die nur innerhalb einer kleinen Machtelite funktioniert. Dabei haben diejenigen, die von dieser Elite regiert werden, keine politischen Rechte. Die moderne Demokratie ist ein Problem der europäischen Zivilisation und keine „Ideologie (als weltliche Religion) des allgemeinen Glücks“, wie das die Autoren des neuen „Weltkriegs um Demokratie“ zu zeigen versuchen.